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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797.

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58.

"Die öftere Abänderung der Arbeit ist noch
das Einzige, was mich erhält. Freilich wird
so viel angefangen und wenig vollendet. Aber
was schadet das? Wenn ich auch nichts in
meinem Leben mehr vollendete, ja nie etwas
vollendet hätte, wäre es nicht eben das? --
Vielleicht wirst Du auch diese Gesinnung ein
wenig misanthropisch finden, welches Du mich
in Ansehung der Religion zu seyn im Ver-
dacht hast. Ohne nun aber zu untersuchen,
wie viel oder wie wenig ich mit meinem Ne-
benmenschen zufrieden zu seyn Ursache habe,
muß ich Dir doch sagen, daß Du mein ganzes
Betragen in Ansehung der Orthodoxie sehr
unrecht verstehst. Ich sollte es der Welt miß-
gönnen, daß man sie mehr aufzuklären suche?
Ich sollte es nicht von Herzen wünschen, daß
ein jeder über die Religion vernünftig denken
möge? Ich würde mich verabscheuen, wenn
ich selbst bei meinen Sudeleien einen andern
Zweck hätte, als jene große Absichten beför-

58.

„Die oͤftere Abaͤnderung der Arbeit iſt noch
das Einzige, was mich erhaͤlt. Freilich wird
ſo viel angefangen und wenig vollendet. Aber
was ſchadet das? Wenn ich auch nichts in
meinem Leben mehr vollendete, ja nie etwas
vollendet haͤtte, waͤre es nicht eben das? —
Vielleicht wirſt Du auch dieſe Geſinnung ein
wenig miſanthropiſch finden, welches Du mich
in Anſehung der Religion zu ſeyn im Ver-
dacht haſt. Ohne nun aber zu unterſuchen,
wie viel oder wie wenig ich mit meinem Ne-
benmenſchen zufrieden zu ſeyn Urſache habe,
muß ich Dir doch ſagen, daß Du mein ganzes
Betragen in Anſehung der Orthodoxie ſehr
unrecht verſtehſt. Ich ſollte es der Welt miß-
goͤnnen, daß man ſie mehr aufzuklaͤren ſuche?
Ich ſollte es nicht von Herzen wuͤnſchen, daß
ein jeder uͤber die Religion vernuͤnftig denken
moͤge? Ich wuͤrde mich verabſcheuen, wenn
ich ſelbſt bei meinen Sudeleien einen andern
Zweck haͤtte, als jene große Abſichten befoͤr-

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[135/0142] 58. „Die oͤftere Abaͤnderung der Arbeit iſt noch das Einzige, was mich erhaͤlt. Freilich wird ſo viel angefangen und wenig vollendet. Aber was ſchadet das? Wenn ich auch nichts in meinem Leben mehr vollendete, ja nie etwas vollendet haͤtte, waͤre es nicht eben das? — Vielleicht wirſt Du auch dieſe Geſinnung ein wenig miſanthropiſch finden, welches Du mich in Anſehung der Religion zu ſeyn im Ver- dacht haſt. Ohne nun aber zu unterſuchen, wie viel oder wie wenig ich mit meinem Ne- benmenſchen zufrieden zu ſeyn Urſache habe, muß ich Dir doch ſagen, daß Du mein ganzes Betragen in Anſehung der Orthodoxie ſehr unrecht verſtehſt. Ich ſollte es der Welt miß- goͤnnen, daß man ſie mehr aufzuklaͤren ſuche? Ich ſollte es nicht von Herzen wuͤnſchen, daß ein jeder uͤber die Religion vernuͤnftig denken moͤge? Ich wuͤrde mich verabſcheuen, wenn ich ſelbſt bei meinen Sudeleien einen andern Zweck haͤtte, als jene große Abſichten befoͤr-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797/142>, abgerufen am 29.03.2024.