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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

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Erstes Wäldchen.

Jch sehe, daß ich bisher bloß in kritischen Ma-
kerien aufgeräumt habe, die Hr. L. seinem Laokoon
hat zum Grunde legen wollen, füglich aber auch
dem Hauptinhalt seines Buchs unbeschadet, hätte
auslassen können. Es ist Zeit, meine Leser aus
dem kritischen Schutte hinweg, zu diesem Haupt-
inhalte selbst näher hinan zu führen, und --

9.

Den ersten Unterschied zwischen Poesie und der
bildenden Kunst sucht L. a) in dem Augenblicke
zu ertappen, in den die materiellen Schranken der
Kunst alle ihre Nachahmungen binden. Dieser
Augenblick also könne nicht fruchtbar gnug gewäh-
let werden: und sei dann nur fruchtbar, wenn er
der Einbildungskraft freien Raum läßt. -- So
weit nun sind schon alle Kunstrichter gekommen, die
über die Grenzen der Künste nachdachten; aber der
Gebrauch, den Hr. L. macht, gehört ihm. Jst
nämlich die Kunst an einen Augenblick gebunden,
bleibt dieser Augenblick: so wähle sie nicht das Höch-
ste in einem Affekt: sonst weiß die Einbildungs-
kraft kein Höheres: sie drücke auch nichts Transi-
torisches aus; denn dies Transitorische wird durch
sie verewigt.

Nichts hingegen nöthige den Dichter, sein Ge-
mälde in einen Augenblick zu concentriren. Er

neh-
a) p. 24.
Erſtes Waͤldchen.

Jch ſehe, daß ich bisher bloß in kritiſchen Ma-
kerien aufgeraͤumt habe, die Hr. L. ſeinem Laokoon
hat zum Grunde legen wollen, fuͤglich aber auch
dem Hauptinhalt ſeines Buchs unbeſchadet, haͤtte
auslaſſen koͤnnen. Es iſt Zeit, meine Leſer aus
dem kritiſchen Schutte hinweg, zu dieſem Haupt-
inhalte ſelbſt naͤher hinan zu fuͤhren, und —

9.

Den erſten Unterſchied zwiſchen Poeſie und der
bildenden Kunſt ſucht L. a) in dem Augenblicke
zu ertappen, in den die materiellen Schranken der
Kunſt alle ihre Nachahmungen binden. Dieſer
Augenblick alſo koͤnne nicht fruchtbar gnug gewaͤh-
let werden: und ſei dann nur fruchtbar, wenn er
der Einbildungskraft freien Raum laͤßt. — So
weit nun ſind ſchon alle Kunſtrichter gekommen, die
uͤber die Grenzen der Kuͤnſte nachdachten; aber der
Gebrauch, den Hr. L. macht, gehoͤrt ihm. Jſt
naͤmlich die Kunſt an einen Augenblick gebunden,
bleibt dieſer Augenblick: ſo waͤhle ſie nicht das Hoͤch-
ſte in einem Affekt: ſonſt weiß die Einbildungs-
kraft kein Hoͤheres: ſie druͤcke auch nichts Tranſi-
toriſches aus; denn dies Tranſitoriſche wird durch
ſie verewigt.

Nichts hingegen noͤthige den Dichter, ſein Ge-
maͤlde in einen Augenblick zu concentriren. Er

neh-
a) p. 24.
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[107/0113] Erſtes Waͤldchen. Jch ſehe, daß ich bisher bloß in kritiſchen Ma- kerien aufgeraͤumt habe, die Hr. L. ſeinem Laokoon hat zum Grunde legen wollen, fuͤglich aber auch dem Hauptinhalt ſeines Buchs unbeſchadet, haͤtte auslaſſen koͤnnen. Es iſt Zeit, meine Leſer aus dem kritiſchen Schutte hinweg, zu dieſem Haupt- inhalte ſelbſt naͤher hinan zu fuͤhren, und — 9. Den erſten Unterſchied zwiſchen Poeſie und der bildenden Kunſt ſucht L. a) in dem Augenblicke zu ertappen, in den die materiellen Schranken der Kunſt alle ihre Nachahmungen binden. Dieſer Augenblick alſo koͤnne nicht fruchtbar gnug gewaͤh- let werden: und ſei dann nur fruchtbar, wenn er der Einbildungskraft freien Raum laͤßt. — So weit nun ſind ſchon alle Kunſtrichter gekommen, die uͤber die Grenzen der Kuͤnſte nachdachten; aber der Gebrauch, den Hr. L. macht, gehoͤrt ihm. Jſt naͤmlich die Kunſt an einen Augenblick gebunden, bleibt dieſer Augenblick: ſo waͤhle ſie nicht das Hoͤch- ſte in einem Affekt: ſonſt weiß die Einbildungs- kraft kein Hoͤheres: ſie druͤcke auch nichts Tranſi- toriſches aus; denn dies Tranſitoriſche wird durch ſie verewigt. Nichts hingegen noͤthige den Dichter, ſein Ge- maͤlde in einen Augenblick zu concentriren. Er neh- a) p. 24.

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/113>, abgerufen am 25.04.2024.