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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

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Kritische Wälder.
ser desselben bilden, zeigt keinen poetischen Leser des-
selben an, verrückt vielmehr die Sphäre eines blos
poetischen Lesens völlig. Fromm mag sie seyn, aber
auch nichts weiter; ich will das Auge meines Jüng-
lings nicht verwöhnen, bei Dichtern dergestalt einen
Kundschafter der Ehrbarkeit abzugeben, sonst wird
er kein poetischer Jüngling. Ein tugendhafter
Jüngling aber? Recht gut! "Die Tugend, sagt
"der Landpriester von Wakesield, die immer und
"immer eine Schildwache nöthig hat, ist kaum der
"Schildwache werth!" -- --

2.

Jener frug: was ist Wahrheit? und ich wer-
de wohl sehr weitläuftig, was Schamhaftigkeit
sey? fragen müssen, da Hr. Klotz nicht etwa über
die persönliche Schamhaftigkeit Virgils allein, son-
dern auch und insonderheit über die Schamhaftig-
keit, die in seinen Gedichten herrscht, spricht, und
mit Allgemeinsätzen auf so viel andre schamhafte
und schamlose Griechen und Römer beian zieht,
daß mir über das weite Thema Angst und bange
wird. Man erlaube mir also, mich auf eine Be-
sichtigung der Schamglieder so vieler Schriftstel-
ler, aus verschiedenen Zeiten und Völkern und Gat-
tungen, zum Voraus mit der Frage zu wapnen:
"worinn die Schamhaftigkeit uberhaupt bestehe?
"wie sich einzeln äußere?"

Jn

Kritiſche Waͤlder.
ſer deſſelben bilden, zeigt keinen poetiſchen Leſer deſ-
ſelben an, verruͤckt vielmehr die Sphaͤre eines blos
poetiſchen Leſens voͤllig. Fromm mag ſie ſeyn, aber
auch nichts weiter; ich will das Auge meines Juͤng-
lings nicht verwoͤhnen, bei Dichtern dergeſtalt einen
Kundſchafter der Ehrbarkeit abzugeben, ſonſt wird
er kein poetiſcher Juͤngling. Ein tugendhafter
Juͤngling aber? Recht gut! „Die Tugend, ſagt
„der Landprieſter von Wakeſield, die immer und
„immer eine Schildwache noͤthig hat, iſt kaum der
„Schildwache werth!„ — —

2.

Jener frug: was iſt Wahrheit? und ich wer-
de wohl ſehr weitlaͤuftig, was Schamhaftigkeit
ſey? fragen muͤſſen, da Hr. Klotz nicht etwa uͤber
die perſoͤnliche Schamhaftigkeit Virgils allein, ſon-
dern auch und inſonderheit uͤber die Schamhaftig-
keit, die in ſeinen Gedichten herrſcht, ſpricht, und
mit Allgemeinſaͤtzen auf ſo viel andre ſchamhafte
und ſchamloſe Griechen und Roͤmer beian zieht,
daß mir uͤber das weite Thema Angſt und bange
wird. Man erlaube mir alſo, mich auf eine Be-
ſichtigung der Schamglieder ſo vieler Schriftſtel-
ler, aus verſchiedenen Zeiten und Voͤlkern und Gat-
tungen, zum Voraus mit der Frage zu wapnen:
„worinn die Schamhaftigkeit uberhaupt beſtehe?
„wie ſich einzeln aͤußere?„

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[134/0140] Kritiſche Waͤlder. ſer deſſelben bilden, zeigt keinen poetiſchen Leſer deſ- ſelben an, verruͤckt vielmehr die Sphaͤre eines blos poetiſchen Leſens voͤllig. Fromm mag ſie ſeyn, aber auch nichts weiter; ich will das Auge meines Juͤng- lings nicht verwoͤhnen, bei Dichtern dergeſtalt einen Kundſchafter der Ehrbarkeit abzugeben, ſonſt wird er kein poetiſcher Juͤngling. Ein tugendhafter Juͤngling aber? Recht gut! „Die Tugend, ſagt „der Landprieſter von Wakeſield, die immer und „immer eine Schildwache noͤthig hat, iſt kaum der „Schildwache werth!„ — — 2. Jener frug: was iſt Wahrheit? und ich wer- de wohl ſehr weitlaͤuftig, was Schamhaftigkeit ſey? fragen muͤſſen, da Hr. Klotz nicht etwa uͤber die perſoͤnliche Schamhaftigkeit Virgils allein, ſon- dern auch und inſonderheit uͤber die Schamhaftig- keit, die in ſeinen Gedichten herrſcht, ſpricht, und mit Allgemeinſaͤtzen auf ſo viel andre ſchamhafte und ſchamloſe Griechen und Roͤmer beian zieht, daß mir uͤber das weite Thema Angſt und bange wird. Man erlaube mir alſo, mich auf eine Be- ſichtigung der Schamglieder ſo vieler Schriftſtel- ler, aus verſchiedenen Zeiten und Voͤlkern und Gat- tungen, zum Voraus mit der Frage zu wapnen: „worinn die Schamhaftigkeit uberhaupt beſtehe? „wie ſich einzeln aͤußere?„ Jn

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/140>, abgerufen am 16.04.2024.