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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

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Zweites Wäldchen.
Deutschland diese künstliche Odenform mit ihrem ab-
gebrochnen Anfange, und ihrer schönen Digression,
und ihrem künstlichen Sprunge, und ihrer künstli-
chen Unordnung, und ihren schönen Strophenüber-
gängen, und artigen Enjambements recht hand-
werksmäßig geformet und gegossen: seit dem ist we-
nig Neues im Geiste hoher Oden erschienen. Glück-
liche Theorie von der hohen Kühnheit eines Dich-
ters, die uns das eigne Gefühl solcher Dichterkühn-
heit einschläfert.

5.

Der zweite Abweg, Horaz zu lesen, ist, wenn
sie Hauptgeschmack wird, die Parallelenmacherei.
Hr. Kl. darf nur ein großes Bild, einen gefallen-
den Gedanken in einem Dichter finden: so steht ihm
bald ein andrer, und noch ein andrer, und endlich
so viele andre zu Dienste, daß der vorige Gedanke
glatt weg ist. Nun ist eine solche Arbeit bei einer
mäßigen Belesenheit, oder einem mäßigen Gebrau-
che von Registern, Anthologien, Florilegiis, und
wie die Sammelplätze mehr heißen, ziemlich leicht:
sie kann auch bei Anfängern, oder bei dunkeln, ver-
deckten Stellen manchmal nutzbar seyn; im Gan-
zen ist sie verderblich. Schade um die Schönheit,
die ich erst aus hundert Vergleichungen schön fin-
den soll: Schade um die Schöne, die mich erst

durch
Q 2

Zweites Waͤldchen.
Deutſchland dieſe kuͤnſtliche Odenform mit ihrem ab-
gebrochnen Anfange, und ihrer ſchoͤnen Digreſſion,
und ihrem kuͤnſtlichen Sprunge, und ihrer kuͤnſtli-
chen Unordnung, und ihren ſchoͤnen Strophenuͤber-
gaͤngen, und artigen Enjambements recht hand-
werksmaͤßig geformet und gegoſſen: ſeit dem iſt we-
nig Neues im Geiſte hoher Oden erſchienen. Gluͤck-
liche Theorie von der hohen Kuͤhnheit eines Dich-
ters, die uns das eigne Gefuͤhl ſolcher Dichterkuͤhn-
heit einſchlaͤfert.

5.

Der zweite Abweg, Horaz zu leſen, iſt, wenn
ſie Hauptgeſchmack wird, die Parallelenmacherei.
Hr. Kl. darf nur ein großes Bild, einen gefallen-
den Gedanken in einem Dichter finden: ſo ſteht ihm
bald ein andrer, und noch ein andrer, und endlich
ſo viele andre zu Dienſte, daß der vorige Gedanke
glatt weg iſt. Nun iſt eine ſolche Arbeit bei einer
maͤßigen Beleſenheit, oder einem maͤßigen Gebrau-
che von Regiſtern, Anthologien, Florilegiis, und
wie die Sammelplaͤtze mehr heißen, ziemlich leicht:
ſie kann auch bei Anfaͤngern, oder bei dunkeln, ver-
deckten Stellen manchmal nutzbar ſeyn; im Gan-
zen iſt ſie verderblich. Schade um die Schoͤnheit,
die ich erſt aus hundert Vergleichungen ſchoͤn fin-
den ſoll: Schade um die Schoͤne, die mich erſt

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[243/0249] Zweites Waͤldchen. Deutſchland dieſe kuͤnſtliche Odenform mit ihrem ab- gebrochnen Anfange, und ihrer ſchoͤnen Digreſſion, und ihrem kuͤnſtlichen Sprunge, und ihrer kuͤnſtli- chen Unordnung, und ihren ſchoͤnen Strophenuͤber- gaͤngen, und artigen Enjambements recht hand- werksmaͤßig geformet und gegoſſen: ſeit dem iſt we- nig Neues im Geiſte hoher Oden erſchienen. Gluͤck- liche Theorie von der hohen Kuͤhnheit eines Dich- ters, die uns das eigne Gefuͤhl ſolcher Dichterkuͤhn- heit einſchlaͤfert. 5. Der zweite Abweg, Horaz zu leſen, iſt, wenn ſie Hauptgeſchmack wird, die Parallelenmacherei. Hr. Kl. darf nur ein großes Bild, einen gefallen- den Gedanken in einem Dichter finden: ſo ſteht ihm bald ein andrer, und noch ein andrer, und endlich ſo viele andre zu Dienſte, daß der vorige Gedanke glatt weg iſt. Nun iſt eine ſolche Arbeit bei einer maͤßigen Beleſenheit, oder einem maͤßigen Gebrau- che von Regiſtern, Anthologien, Florilegiis, und wie die Sammelplaͤtze mehr heißen, ziemlich leicht: ſie kann auch bei Anfaͤngern, oder bei dunkeln, ver- deckten Stellen manchmal nutzbar ſeyn; im Gan- zen iſt ſie verderblich. Schade um die Schoͤnheit, die ich erſt aus hundert Vergleichungen ſchoͤn fin- den ſoll: Schade um die Schoͤne, die mich erſt durch Q 2

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/249>, abgerufen am 29.03.2024.