Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Wäldchen.
sten poetischen Wuth -- "nun! nicht etwa den
"Hals abschneidet, oder sich, wie jener löwensche
"Romanzenpoet, mit dem Federmesser in die Au-
"gen läuft?" So böse nicht! daß er sich ein Myr-
thenkränzchen flechtet. Nichts mehr? noch etwas!
auf die Recommendation des Amors, (man denke!
aber er kannte das Närrchen auch genau: es war
der Gemmenamor, alis conspicuus Amor) auf die
Empfehlung desselben fängt der, der im Walde ru-
hig lag, auf einmal an, -- seine lateinische Chloe
zu besingen,

ihre schöne schwavze Augen,
ihre süße Honigküsse,
ihre leichte drohnde Minen,
ihre -- --

kurz, hundert Dinge, die er auf die Empfehlung
Amors so unerhört und ungesehen singen kann, als
der Ritter von der traurigen Gestalt seine Dulci-
nea. Jch sage singen; aber besser:

Die es ihm jetzt beliebt, in Versen vorzutragen,

(juvat dicere versibus.) Und dies beliebt ihm, so
oft die stille Nacht anbricht, so oft die Luna ihr
schönes Haupt vorstreckt, so oft es der Echo beliebt
nachzuseufzen. -- Mein unverdorbner Leser Horaz
wirft solche Horaze zurück, es fehlt ihnen Eins:
der Geist Horaz im Ganzen der Ode.

Wer
R 2

Zweites Waͤldchen.
ſten poetiſchen Wuth — „nun! nicht etwa den
„Hals abſchneidet, oder ſich, wie jener loͤwenſche
„Romanzenpoet, mit dem Federmeſſer in die Au-
„gen laͤuft?„ So boͤſe nicht! daß er ſich ein Myr-
thenkraͤnzchen flechtet. Nichts mehr? noch etwas!
auf die Recommendation des Amors, (man denke!
aber er kannte das Naͤrrchen auch genau: es war
der Gemmenamor, alis conſpicuus Amor) auf die
Empfehlung deſſelben faͤngt der, der im Walde ru-
hig lag, auf einmal an, — ſeine lateiniſche Chloe
zu beſingen,

ihre ſchoͤne ſchwavze Augen,
ihre ſuͤße Honigkuͤſſe,
ihre leichte drohnde Minen,
ihre — —

kurz, hundert Dinge, die er auf die Empfehlung
Amors ſo unerhoͤrt und ungeſehen ſingen kann, als
der Ritter von der traurigen Geſtalt ſeine Dulci-
nea. Jch ſage ſingen; aber beſſer:

Die es ihm jetzt beliebt, in Verſen vorzutragen,

(juvat dicere verſibus.) Und dies beliebt ihm, ſo
oft die ſtille Nacht anbricht, ſo oft die Luna ihr
ſchoͤnes Haupt vorſtreckt, ſo oft es der Echo beliebt
nachzuſeufzen. — Mein unverdorbner Leſer Horaz
wirft ſolche Horaze zuruͤck, es fehlt ihnen Eins:
der Geiſt Horaz im Ganzen der Ode.

Wer
R 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0265" n="259"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Zweites Wa&#x0364;ldchen.</hi></fw><lb/>
&#x017F;ten poeti&#x017F;chen Wuth &#x2014; &#x201E;nun! nicht etwa den<lb/>
&#x201E;Hals ab&#x017F;chneidet, oder &#x017F;ich, wie jener lo&#x0364;wen&#x017F;che<lb/>
&#x201E;Romanzenpoet, mit dem Federme&#x017F;&#x017F;er in die Au-<lb/>
&#x201E;gen la&#x0364;uft?&#x201E; So bo&#x0364;&#x017F;e nicht! daß er &#x017F;ich ein Myr-<lb/>
thenkra&#x0364;nzchen flechtet. Nichts mehr? noch etwas!<lb/>
auf die Recommendation des Amors, (man denke!<lb/>
aber er kannte das Na&#x0364;rrchen auch genau: es war<lb/>
der Gemmenamor, <hi rendition="#aq"><hi rendition="#i">alis con&#x017F;picuus</hi> Amor</hi>) auf die<lb/>
Empfehlung de&#x017F;&#x017F;elben fa&#x0364;ngt der, der im Walde ru-<lb/>
hig lag, auf einmal an, &#x2014; &#x017F;eine lateini&#x017F;che Chloe<lb/>
zu be&#x017F;ingen,</p><lb/>
          <list>
            <item>ihre &#x017F;cho&#x0364;ne &#x017F;chwavze Augen,</item><lb/>
            <item>ihre &#x017F;u&#x0364;ße Honigku&#x0364;&#x017F;&#x017F;e,</item><lb/>
            <item>ihre leichte drohnde Minen,</item><lb/>
            <item>ihre &#x2014; &#x2014;</item>
          </list><lb/>
          <p>kurz, hundert Dinge, die er auf die Empfehlung<lb/>
Amors &#x017F;o unerho&#x0364;rt und unge&#x017F;ehen &#x017F;ingen kann, als<lb/>
der Ritter von der traurigen Ge&#x017F;talt &#x017F;eine Dulci-<lb/>
nea. Jch &#x017F;age &#x017F;ingen; aber be&#x017F;&#x017F;er:</p><lb/>
          <cit>
            <quote> <hi rendition="#fr">Die es ihm jetzt beliebt, in Ver&#x017F;en vorzutragen,</hi> </quote>
          </cit><lb/>
          <p>(<hi rendition="#aq">juvat dicere ver&#x017F;ibus.</hi>) Und dies beliebt ihm, &#x017F;o<lb/>
oft die &#x017F;tille Nacht anbricht, &#x017F;o oft die Luna ihr<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;nes Haupt vor&#x017F;treckt, &#x017F;o oft es der Echo beliebt<lb/>
nachzu&#x017F;eufzen. &#x2014; Mein unverdorbner Le&#x017F;er Horaz<lb/>
wirft &#x017F;olche Horaze zuru&#x0364;ck, es fehlt ihnen Eins:<lb/>
der Gei&#x017F;t Horaz im Ganzen der Ode.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="sig">R 2</fw>
          <fw place="bottom" type="catch">Wer</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[259/0265] Zweites Waͤldchen. ſten poetiſchen Wuth — „nun! nicht etwa den „Hals abſchneidet, oder ſich, wie jener loͤwenſche „Romanzenpoet, mit dem Federmeſſer in die Au- „gen laͤuft?„ So boͤſe nicht! daß er ſich ein Myr- thenkraͤnzchen flechtet. Nichts mehr? noch etwas! auf die Recommendation des Amors, (man denke! aber er kannte das Naͤrrchen auch genau: es war der Gemmenamor, alis conſpicuus Amor) auf die Empfehlung deſſelben faͤngt der, der im Walde ru- hig lag, auf einmal an, — ſeine lateiniſche Chloe zu beſingen, ihre ſchoͤne ſchwavze Augen, ihre ſuͤße Honigkuͤſſe, ihre leichte drohnde Minen, ihre — — kurz, hundert Dinge, die er auf die Empfehlung Amors ſo unerhoͤrt und ungeſehen ſingen kann, als der Ritter von der traurigen Geſtalt ſeine Dulci- nea. Jch ſage ſingen; aber beſſer: Die es ihm jetzt beliebt, in Verſen vorzutragen, (juvat dicere verſibus.) Und dies beliebt ihm, ſo oft die ſtille Nacht anbricht, ſo oft die Luna ihr ſchoͤnes Haupt vorſtreckt, ſo oft es der Echo beliebt nachzuſeufzen. — Mein unverdorbner Leſer Horaz wirft ſolche Horaze zuruͤck, es fehlt ihnen Eins: der Geiſt Horaz im Ganzen der Ode. Wer R 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/265
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/265>, abgerufen am 19.04.2024.