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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767.

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Jetzt mache ich den Riß zu dem Ge-
bäude auf diese Grundlage: wiefern wird
durch jede merkwürdige Frucht des Gei-
stes ein neuer Stein und Pfeiler dazu ge-
bracht werden? wie jener unglücklich ge-
bauet; dieser das gutgebauete unglücklich
niedergerissen? wie jener Handlanger ein
Baumeister, und dieser Baumeister ein
Kalklöscher seyn sollte? wie viel unerkann-
tes Verdienst jener stille Fleißige habe,
wie viel Aufmunterung dieses Genie ver-
diene, um nicht im Fleiße zu ersticken;
wie viel Schaden jener Lärmer dem Gan-
zen zugefüget, und wie er auf bessere We-
ge zu lenken sey? Dies alles zeige ein
Kunstrichter im Plan, der Gelehrte übe
es aus, und der Pfleger der Wissenschaf-
ten halte jene zur Ausübung an, befördere
den Fleiß, und erwecke das Genie.

Wo ist nun ein hundertäugiger Argos,
um dies alles zu übersehen? Wo ein Bria-
reus mit hundert Händen, um es auszu-
führen? Und wo ein Gesezzgeber, wider
den auch die eigensinnigen Genies, die
Ziegenbärtigen Grammatiker, und der

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Jetzt mache ich den Riß zu dem Ge-
baͤude auf dieſe Grundlage: wiefern wird
durch jede merkwuͤrdige Frucht des Gei-
ſtes ein neuer Stein und Pfeiler dazu ge-
bracht werden? wie jener ungluͤcklich ge-
bauet; dieſer das gutgebauete ungluͤcklich
niedergeriſſen? wie jener Handlanger ein
Baumeiſter, und dieſer Baumeiſter ein
Kalkloͤſcher ſeyn ſollte? wie viel unerkann-
tes Verdienſt jener ſtille Fleißige habe,
wie viel Aufmunterung dieſes Genie ver-
diene, um nicht im Fleiße zu erſticken;
wie viel Schaden jener Laͤrmer dem Gan-
zen zugefuͤget, und wie er auf beſſere We-
ge zu lenken ſey? Dies alles zeige ein
Kunſtrichter im Plan, der Gelehrte uͤbe
es aus, und der Pfleger der Wiſſenſchaf-
ten halte jene zur Ausuͤbung an, befoͤrdere
den Fleiß, und erwecke das Genie.

Wo iſt nun ein hundertaͤugiger Argos,
um dies alles zu uͤberſehen? Wo ein Bria-
reus mit hundert Haͤnden, um es auszu-
fuͤhren? Und wo ein Geſezzgeber, wider
den auch die eigenſinnigen Genies, die
Ziegenbaͤrtigen Grammatiker, und der

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A 4
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[7/0011] Jetzt mache ich den Riß zu dem Ge- baͤude auf dieſe Grundlage: wiefern wird durch jede merkwuͤrdige Frucht des Gei- ſtes ein neuer Stein und Pfeiler dazu ge- bracht werden? wie jener ungluͤcklich ge- bauet; dieſer das gutgebauete ungluͤcklich niedergeriſſen? wie jener Handlanger ein Baumeiſter, und dieſer Baumeiſter ein Kalkloͤſcher ſeyn ſollte? wie viel unerkann- tes Verdienſt jener ſtille Fleißige habe, wie viel Aufmunterung dieſes Genie ver- diene, um nicht im Fleiße zu erſticken; wie viel Schaden jener Laͤrmer dem Gan- zen zugefuͤget, und wie er auf beſſere We- ge zu lenken ſey? Dies alles zeige ein Kunſtrichter im Plan, der Gelehrte uͤbe es aus, und der Pfleger der Wiſſenſchaf- ten halte jene zur Ausuͤbung an, befoͤrdere den Fleiß, und erwecke das Genie. Wo iſt nun ein hundertaͤugiger Argos, um dies alles zu uͤberſehen? Wo ein Bria- reus mit hundert Haͤnden, um es auszu- fuͤhren? Und wo ein Geſezzgeber, wider den auch die eigenſinnigen Genies, die Ziegenbaͤrtigen Grammatiker, und der Poͤ- A 4

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur01_1767/11>, abgerufen am 23.04.2024.