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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767.

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tur. Je eingezogener und politischer die
Sitten werden, je weniger die Leidenschaften
in der Welt wirken, desto mehr verlieret sie
an Gegenständen. Je mehr man am Perio-
den künstelt, je mehr die Jnversionen ab-
schaffet, je mehr bürgerliche und abstrakte
Wörter eingeführet werden, je mehr Regeln
eine Sprache erhält: desto vollkommener
wird sie zwar, aber desto mehr verliert die
wahre Poesie.

Jezt ward der Periode der Prose geboren,
und in die Runde gedrehet: durch Uebung und
Bemerkung ward diese Zeit, da sie am besten
war, das Alter der schönen Prose, die den
Reichthum ihrer Jugend mäßig brauchte, die
den Eigensinn der Jdiotismen einschränkte,
ohne ihn ganz abzuschaffen, die die Freiheit
der Jnversionen mäßigte, ohne doch noch die
Fesseln einer philosophischen Construction über
sich zu nehmen, die den poetischen Rhythmus
zum Wohlklang der Prose herunter stimmte,
und die vorher freie Anordnung der Worte
mehr in die Runde eines Perioden ein-
schloß: -- dies ist das männliche Alter
der Sprache.

Das

tur. Je eingezogener und politiſcher die
Sitten werden, je weniger die Leidenſchaften
in der Welt wirken, deſto mehr verlieret ſie
an Gegenſtaͤnden. Je mehr man am Perio-
den kuͤnſtelt, je mehr die Jnverſionen ab-
ſchaffet, je mehr buͤrgerliche und abſtrakte
Woͤrter eingefuͤhret werden, je mehr Regeln
eine Sprache erhaͤlt: deſto vollkommener
wird ſie zwar, aber deſto mehr verliert die
wahre Poeſie.

Jezt ward der Periode der Proſe geboren,
und in die Runde gedrehet: durch Uebung und
Bemerkung ward dieſe Zeit, da ſie am beſten
war, das Alter der ſchoͤnen Proſe, die den
Reichthum ihrer Jugend maͤßig brauchte, die
den Eigenſinn der Jdiotismen einſchraͤnkte,
ohne ihn ganz abzuſchaffen, die die Freiheit
der Jnverſionen maͤßigte, ohne doch noch die
Feſſeln einer philoſophiſchen Conſtruction uͤber
ſich zu nehmen, die den poetiſchen Rhythmus
zum Wohlklang der Proſe herunter ſtimmte,
und die vorher freie Anordnung der Worte
mehr in die Runde eines Perioden ein-
ſchloß: — dies iſt das maͤnnliche Alter
der Sprache.

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[32/0036] tur. Je eingezogener und politiſcher die Sitten werden, je weniger die Leidenſchaften in der Welt wirken, deſto mehr verlieret ſie an Gegenſtaͤnden. Je mehr man am Perio- den kuͤnſtelt, je mehr die Jnverſionen ab- ſchaffet, je mehr buͤrgerliche und abſtrakte Woͤrter eingefuͤhret werden, je mehr Regeln eine Sprache erhaͤlt: deſto vollkommener wird ſie zwar, aber deſto mehr verliert die wahre Poeſie. Jezt ward der Periode der Proſe geboren, und in die Runde gedrehet: durch Uebung und Bemerkung ward dieſe Zeit, da ſie am beſten war, das Alter der ſchoͤnen Proſe, die den Reichthum ihrer Jugend maͤßig brauchte, die den Eigenſinn der Jdiotismen einſchraͤnkte, ohne ihn ganz abzuſchaffen, die die Freiheit der Jnverſionen maͤßigte, ohne doch noch die Feſſeln einer philoſophiſchen Conſtruction uͤber ſich zu nehmen, die den poetiſchen Rhythmus zum Wohlklang der Proſe herunter ſtimmte, und die vorher freie Anordnung der Worte mehr in die Runde eines Perioden ein- ſchloß: — dies iſt das maͤnnliche Alter der Sprache. Das

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur01_1767/36>, abgerufen am 25.04.2024.