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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767.

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"Höhe gestiegen sey?" Es ist allerdings
wahr, was alle alte Schriftsteller einmüthig
behaupten, und was in den neuen Büchern
wenig angewandt ist, daß die Poesie, lange
vorher, ehe es Prose gab,
zu ihrer grösten
Höhe gestiegen sey, daß diese Prose darauf
die Dichtkunst verdrungen, und diese nie wie-
der ihre vorige Höhe erreichen können. Die
ersten Schriftsteller jeder Nation sind Dich-
ter: die ersten Dichter unnachahmlich: zur
Zeit der schönen Prose wuchs in Gedichten
nichts als die Kunst: sie hatte sich schon über
die Erde erhoben und suchte ein Höchstes, bis
sie ihre Kräfte erschöpfte und im Aether der
Spitzfündigkeit blieb. Jn der spätern Zeit
hat man blos' versificirte Philosophie, oder
mittelmäßige Poesie. Ueberhaupt bekommt
hierdurch die ganze schöne Abhandlung: wie
man den Poetischen Stil über den Prosai-
schen erheben könne?* durchaus eine an-
dere Wendung. Sein Grundsaz ist: "Keine
"Nation ist weder in der Poesie noch in der
"Prose vortreflich geworden, die ihre Poetische
"Sprache nicht sehr merklich von der Prosai-

"schen
* Litt. Br. Th. 3. p. 305.
C 2

„Hoͤhe geſtiegen ſey?„ Es iſt allerdings
wahr, was alle alte Schriftſteller einmuͤthig
behaupten, und was in den neuen Buͤchern
wenig angewandt iſt, daß die Poeſie, lange
vorher, ehe es Proſe gab,
zu ihrer groͤſten
Hoͤhe geſtiegen ſey, daß dieſe Proſe darauf
die Dichtkunſt verdrungen, und dieſe nie wie-
der ihre vorige Hoͤhe erreichen koͤnnen. Die
erſten Schriftſteller jeder Nation ſind Dich-
ter: die erſten Dichter unnachahmlich: zur
Zeit der ſchoͤnen Proſe wuchs in Gedichten
nichts als die Kunſt: ſie hatte ſich ſchon uͤber
die Erde erhoben und ſuchte ein Hoͤchſtes, bis
ſie ihre Kraͤfte erſchoͤpfte und im Aether der
Spitzfuͤndigkeit blieb. Jn der ſpaͤtern Zeit
hat man blos' verſificirte Philoſophie, oder
mittelmaͤßige Poeſie. Ueberhaupt bekommt
hierdurch die ganze ſchoͤne Abhandlung: wie
man den Poetiſchen Stil uͤber den Proſai-
ſchen erheben koͤnne?* durchaus eine an-
dere Wendung. Sein Grundſaz iſt: „Keine
„Nation iſt weder in der Poeſie noch in der
„Proſe vortreflich geworden, die ihre Poetiſche
„Sprache nicht ſehr merklich von der Proſai-

„ſchen
* Litt. Br. Th. 3. p. 305.
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[35/0039] „Hoͤhe geſtiegen ſey?„ Es iſt allerdings wahr, was alle alte Schriftſteller einmuͤthig behaupten, und was in den neuen Buͤchern wenig angewandt iſt, daß die Poeſie, lange vorher, ehe es Proſe gab, zu ihrer groͤſten Hoͤhe geſtiegen ſey, daß dieſe Proſe darauf die Dichtkunſt verdrungen, und dieſe nie wie- der ihre vorige Hoͤhe erreichen koͤnnen. Die erſten Schriftſteller jeder Nation ſind Dich- ter: die erſten Dichter unnachahmlich: zur Zeit der ſchoͤnen Proſe wuchs in Gedichten nichts als die Kunſt: ſie hatte ſich ſchon uͤber die Erde erhoben und ſuchte ein Hoͤchſtes, bis ſie ihre Kraͤfte erſchoͤpfte und im Aether der Spitzfuͤndigkeit blieb. Jn der ſpaͤtern Zeit hat man blos' verſificirte Philoſophie, oder mittelmaͤßige Poeſie. Ueberhaupt bekommt hierdurch die ganze ſchoͤne Abhandlung: wie man den Poetiſchen Stil uͤber den Proſai- ſchen erheben koͤnne? * durchaus eine an- dere Wendung. Sein Grundſaz iſt: „Keine „Nation iſt weder in der Poeſie noch in der „Proſe vortreflich geworden, die ihre Poetiſche „Sprache nicht ſehr merklich von der Proſai- „ſchen * Litt. Br. Th. 3. p. 305. C 2

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur01_1767/39>, abgerufen am 23.04.2024.