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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

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Denken -- vielleicht verdient dies auch den
Namen eines goldenen Zeitalters.

Ein andrer dachte dem Gefallen und dem
Eindruck nach, den Schönheit und Wahr-
heit auf ihn machte; und fing an die Wahr-
heit seines Schriftstellers in den Leib ihrer
Mutter, Erfahrung, und die Schönheit in
die Lenden ihres Vaters, des Vergnügens,
und Gefühls zurückzuleiten. Vielleicht fühl-
te er sich selbst zu unfruchtbar, um Vater zu
seyn, daß er also wie die Türkische Verschnit-
tene ein Kenner und Beobachter der feinen
Reize zu werden suchte, die jezt blos für sein
Auge, nicht für den Genuß waren. So
ward aus dem Mann von Gefühl ein Phi-
losoph.

Der Philosoph hatte bald das Unglück,
Werke zu sehen, die die Erstgeburt ihrer Ori-
ginale nicht erreichten; er muste also auf die
Ursachen dieser Unfruchtbarkeit denken. Bald
das noch größere Unglück, völlig schlechte
Werke zu sehen; und jezt fieng er an, die
Vorzüge der ersten auf diese anzuwenden:
er prüfte, lehrte und besserte. Das war
der eigentliche Kunstrichter. Jst es nicht

bei-

Denken — vielleicht verdient dies auch den
Namen eines goldenen Zeitalters.

Ein andrer dachte dem Gefallen und dem
Eindruck nach, den Schoͤnheit und Wahr-
heit auf ihn machte; und fing an die Wahr-
heit ſeines Schriftſtellers in den Leib ihrer
Mutter, Erfahrung, und die Schoͤnheit in
die Lenden ihres Vaters, des Vergnuͤgens,
und Gefuͤhls zuruͤckzuleiten. Vielleicht fuͤhl-
te er ſich ſelbſt zu unfruchtbar, um Vater zu
ſeyn, daß er alſo wie die Tuͤrkiſche Verſchnit-
tene ein Kenner und Beobachter der feinen
Reize zu werden ſuchte, die jezt blos fuͤr ſein
Auge, nicht fuͤr den Genuß waren. So
ward aus dem Mann von Gefuͤhl ein Phi-
loſoph.

Der Philoſoph hatte bald das Ungluͤck,
Werke zu ſehen, die die Erſtgeburt ihrer Ori-
ginale nicht erreichten; er muſte alſo auf die
Urſachen dieſer Unfruchtbarkeit denken. Bald
das noch groͤßere Ungluͤck, voͤllig ſchlechte
Werke zu ſehen; und jezt fieng er an, die
Vorzuͤge der erſten auf dieſe anzuwenden:
er pruͤfte, lehrte und beſſerte. Das war
der eigentliche Kunſtrichter. Jſt es nicht

bei-
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[184/0016] Denken — vielleicht verdient dies auch den Namen eines goldenen Zeitalters. Ein andrer dachte dem Gefallen und dem Eindruck nach, den Schoͤnheit und Wahr- heit auf ihn machte; und fing an die Wahr- heit ſeines Schriftſtellers in den Leib ihrer Mutter, Erfahrung, und die Schoͤnheit in die Lenden ihres Vaters, des Vergnuͤgens, und Gefuͤhls zuruͤckzuleiten. Vielleicht fuͤhl- te er ſich ſelbſt zu unfruchtbar, um Vater zu ſeyn, daß er alſo wie die Tuͤrkiſche Verſchnit- tene ein Kenner und Beobachter der feinen Reize zu werden ſuchte, die jezt blos fuͤr ſein Auge, nicht fuͤr den Genuß waren. So ward aus dem Mann von Gefuͤhl ein Phi- loſoph. Der Philoſoph hatte bald das Ungluͤck, Werke zu ſehen, die die Erſtgeburt ihrer Ori- ginale nicht erreichten; er muſte alſo auf die Urſachen dieſer Unfruchtbarkeit denken. Bald das noch groͤßere Ungluͤck, voͤllig ſchlechte Werke zu ſehen; und jezt fieng er an, die Vorzuͤge der erſten auf dieſe anzuwenden: er pruͤfte, lehrte und beſſerte. Das war der eigentliche Kunſtrichter. Jſt es nicht bei-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/16>, abgerufen am 29.03.2024.