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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

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"Leuten häufiger angetroffen wird, als bei
"jungen. Es gehört entweder eine besondre
"Gabe des Himmels, oder eine anhaltende
"Kreuzigung des Fleisches dazu, um weich
"und beugsam gnug zu bleiben, und wenn vol-
"lends der, welcher Bücher lieset, um sie zu be-
"urtheilen, unverdorben bleibt: so hat er ge-
"wiß eben so viel Lob verdient, als der heil.
"Aldhelmus, der sich nackt und blos zu jun-
"gen Mädchen ins Bette legte, und doch der
"Empörung der Sinne siegreich widerstand."
Es ist schwer, aber billig, daß der Kunstrich-
ter sich in den Gedankenkreis seines Schrift-
stellers versezze, und aus seinem Geist lese;
allein wie wenige Schriftsteller haben den
Stab des Popilius, um uns in diesen Kreis
einzuschließen. -- Jst der Verfasser von
der Art, daß wir ihm nachdenken müssen;
so vergißt der Kritikus immer, daß er mit
dem Griffel in der Hand lieset; läßt er uns
aber die Freiheit, mit ihm zur Seite zu den-
ken; so fühlt der Kunstrichter, er habe einer-
lei Polhöhe; und wird also sein Rathgeber
und Beurtheiler. Wenn endlich, wie in den
meisten Deutschen Büchern, die Vorreden

Ent-

„Leuten haͤufiger angetroffen wird, als bei
„jungen. Es gehoͤrt entweder eine beſondre
„Gabe des Himmels, oder eine anhaltende
„Kreuzigung des Fleiſches dazu, um weich
„und beugſam gnug zu bleiben, und wenn vol-
„lends der, welcher Buͤcher lieſet, um ſie zu be-
„urtheilen, unverdorben bleibt: ſo hat er ge-
„wiß eben ſo viel Lob verdient, als der heil.
„Aldhelmus, der ſich nackt und blos zu jun-
„gen Maͤdchen ins Bette legte, und doch der
„Empoͤrung der Sinne ſiegreich widerſtand.„
Es iſt ſchwer, aber billig, daß der Kunſtrich-
ter ſich in den Gedankenkreis ſeines Schrift-
ſtellers verſezze, und aus ſeinem Geiſt leſe;
allein wie wenige Schriftſteller haben den
Stab des Popilius, um uns in dieſen Kreis
einzuſchließen. — Jſt der Verfaſſer von
der Art, daß wir ihm nachdenken muͤſſen;
ſo vergißt der Kritikus immer, daß er mit
dem Griffel in der Hand lieſet; laͤßt er uns
aber die Freiheit, mit ihm zur Seite zu den-
ken; ſo fuͤhlt der Kunſtrichter, er habe einer-
lei Polhoͤhe; und wird alſo ſein Rathgeber
und Beurtheiler. Wenn endlich, wie in den
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[188/0020] „Leuten haͤufiger angetroffen wird, als bei „jungen. Es gehoͤrt entweder eine beſondre „Gabe des Himmels, oder eine anhaltende „Kreuzigung des Fleiſches dazu, um weich „und beugſam gnug zu bleiben, und wenn vol- „lends der, welcher Buͤcher lieſet, um ſie zu be- „urtheilen, unverdorben bleibt: ſo hat er ge- „wiß eben ſo viel Lob verdient, als der heil. „Aldhelmus, der ſich nackt und blos zu jun- „gen Maͤdchen ins Bette legte, und doch der „Empoͤrung der Sinne ſiegreich widerſtand.„ Es iſt ſchwer, aber billig, daß der Kunſtrich- ter ſich in den Gedankenkreis ſeines Schrift- ſtellers verſezze, und aus ſeinem Geiſt leſe; allein wie wenige Schriftſteller haben den Stab des Popilius, um uns in dieſen Kreis einzuſchließen. — Jſt der Verfaſſer von der Art, daß wir ihm nachdenken muͤſſen; ſo vergißt der Kritikus immer, daß er mit dem Griffel in der Hand lieſet; laͤßt er uns aber die Freiheit, mit ihm zur Seite zu den- ken; ſo fuͤhlt der Kunſtrichter, er habe einer- lei Polhoͤhe; und wird alſo ſein Rathgeber und Beurtheiler. Wenn endlich, wie in den meiſten Deutſchen Buͤchern, die Vorreden Ent-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/20>, abgerufen am 24.04.2024.