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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

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Können wir die Morgenländer nachahmen?
Können wir ihnen in der Dichtkunst gleich-
kommen? So frage ich, und leite blos den
Leser auf Wege, die er selbst fortsezzen, oder
nach Belieben vorbeigehen kann.

Die schöne Natur des Orients ist nicht
völlig die unsrige. Wenn David von den
brausenden Tiefen des Jordans nahe an sei-
nen Ufern ein Trauerlied singet: so wird so
ein karakteristisches Ganze draus, als Michae-
lis im 42sten Psalm zeiget. Wenn die bibli-
schen Dichter von den Schneegüssen des Li-
banon;
vom Thau des Hermon; von den
Eichen Basans; vom prächtigen Libanon,
und angenehmen Carmel reden; so geben sie
Bilder, die ihnen die Natur selbst vorgelegt
hat: wenn unsre Dichter ihnen diese Bilder
entwenden, so zeichnen sie nicht unsre Natur,
sondern reden ihren Originalen einige Worte
nach, die wir kaum nur halb verstehen.
Das vortrefliche Buch Hiob! woher nimmt
es alle seine Schäzze der Schönheit? Aus
inländischen, aus Egyptischen Bildern, Er-
dichtungen und Gegenständen! Nun sage
man, wie einer unsrer Dichter, der Egy-

pten

Koͤnnen wir die Morgenlaͤnder nachahmen?
Koͤnnen wir ihnen in der Dichtkunſt gleich-
kommen? So frage ich, und leite blos den
Leſer auf Wege, die er ſelbſt fortſezzen, oder
nach Belieben vorbeigehen kann.

Die ſchoͤne Natur des Orients iſt nicht
voͤllig die unſrige. Wenn David von den
brauſenden Tiefen des Jordans nahe an ſei-
nen Ufern ein Trauerlied ſinget: ſo wird ſo
ein karakteriſtiſches Ganze draus, als Michae-
lis im 42ſten Pſalm zeiget. Wenn die bibli-
ſchen Dichter von den Schneeguͤſſen des Li-
banon;
vom Thau des Hermon; von den
Eichen Baſans; vom praͤchtigen Libanon,
und angenehmen Carmel reden; ſo geben ſie
Bilder, die ihnen die Natur ſelbſt vorgelegt
hat: wenn unſre Dichter ihnen dieſe Bilder
entwenden, ſo zeichnen ſie nicht unſre Natur,
ſondern reden ihren Originalen einige Worte
nach, die wir kaum nur halb verſtehen.
Das vortrefliche Buch Hiob! woher nimmt
es alle ſeine Schaͤzze der Schoͤnheit? Aus
inlaͤndiſchen, aus Egyptiſchen Bildern, Er-
dichtungen und Gegenſtaͤnden! Nun ſage
man, wie einer unſrer Dichter, der Egy-

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[208/0040] Koͤnnen wir die Morgenlaͤnder nachahmen? Koͤnnen wir ihnen in der Dichtkunſt gleich- kommen? So frage ich, und leite blos den Leſer auf Wege, die er ſelbſt fortſezzen, oder nach Belieben vorbeigehen kann. Die ſchoͤne Natur des Orients iſt nicht voͤllig die unſrige. Wenn David von den brauſenden Tiefen des Jordans nahe an ſei- nen Ufern ein Trauerlied ſinget: ſo wird ſo ein karakteriſtiſches Ganze draus, als Michae- lis im 42ſten Pſalm zeiget. Wenn die bibli- ſchen Dichter von den Schneeguͤſſen des Li- banon; vom Thau des Hermon; von den Eichen Baſans; vom praͤchtigen Libanon, und angenehmen Carmel reden; ſo geben ſie Bilder, die ihnen die Natur ſelbſt vorgelegt hat: wenn unſre Dichter ihnen dieſe Bilder entwenden, ſo zeichnen ſie nicht unſre Natur, ſondern reden ihren Originalen einige Worte nach, die wir kaum nur halb verſtehen. Das vortrefliche Buch Hiob! woher nimmt es alle ſeine Schaͤzze der Schoͤnheit? Aus inlaͤndiſchen, aus Egyptiſchen Bildern, Er- dichtungen und Gegenſtaͤnden! Nun ſage man, wie einer unſrer Dichter, der Egy- pten

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/40>, abgerufen am 29.03.2024.