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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

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pten oft nicht einmal aus Reisebeschreibungen
kennt, vom Leviathan und Behemoth
singen darf? Wie manches Lob Gottes
in Deutschen Gedichten könnte ich anführen,
wo die größten Bilder so übel zusammenge-
sezt sind, das ein prächtiges, neues, unge-
wöhnliches -- Unding herauskommt: o über-
ließen doch unsre Dichter dergleichen einigen
Kanzelrednern, die es sehr gut zu brauchen
wissen.

Und wenn wir diese Bilder auch endlich
verstehen -- erklären, und aus den lebhaf-
testen historischen und geographischen Be-
schreibungen ihre Schönheiten ganz fühlen
lernen; nie haben diese historische Beschrei-
bungen, Auslegungen, Erklärungen so viel
Eindruck in uns, als die sinnliche Gegen-
wart dieser Oerter; nie das Leben der An-
schauung, als wenn wir sie selbst sähen; als
wenn unsere Seele durchs Auge brennende
Pfeile empfände, als wenn uns die Muse
wirklich ergriffe und weckte; als wenn wir
mousoleptoi oder mousopataktoi würden;
und so waren es die Poeten des Orients:
"Jch bin der Nede so voll, daß mich der

"Othem

pten oft nicht einmal aus Reiſebeſchreibungen
kennt, vom Leviathan und Behemoth
ſingen darf? Wie manches Lob Gottes
in Deutſchen Gedichten koͤnnte ich anfuͤhren,
wo die groͤßten Bilder ſo uͤbel zuſammenge-
ſezt ſind, das ein praͤchtiges, neues, unge-
woͤhnliches — Unding herauskommt: o uͤber-
ließen doch unſre Dichter dergleichen einigen
Kanzelrednern, die es ſehr gut zu brauchen
wiſſen.

Und wenn wir dieſe Bilder auch endlich
verſtehen — erklaͤren, und aus den lebhaf-
teſten hiſtoriſchen und geographiſchen Be-
ſchreibungen ihre Schoͤnheiten ganz fuͤhlen
lernen; nie haben dieſe hiſtoriſche Beſchrei-
bungen, Auslegungen, Erklaͤrungen ſo viel
Eindruck in uns, als die ſinnliche Gegen-
wart dieſer Oerter; nie das Leben der An-
ſchauung, als wenn wir ſie ſelbſt ſaͤhen; als
wenn unſere Seele durchs Auge brennende
Pfeile empfaͤnde, als wenn uns die Muſe
wirklich ergriffe und weckte; als wenn wir
μουσοληπτοι oder μουσοπατακτοι wuͤrden;
und ſo waren es die Poeten des Orients:
„Jch bin der Nede ſo voll, daß mich der

„Othem
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[209/0041] pten oft nicht einmal aus Reiſebeſchreibungen kennt, vom Leviathan und Behemoth ſingen darf? Wie manches Lob Gottes in Deutſchen Gedichten koͤnnte ich anfuͤhren, wo die groͤßten Bilder ſo uͤbel zuſammenge- ſezt ſind, das ein praͤchtiges, neues, unge- woͤhnliches — Unding herauskommt: o uͤber- ließen doch unſre Dichter dergleichen einigen Kanzelrednern, die es ſehr gut zu brauchen wiſſen. Und wenn wir dieſe Bilder auch endlich verſtehen — erklaͤren, und aus den lebhaf- teſten hiſtoriſchen und geographiſchen Be- ſchreibungen ihre Schoͤnheiten ganz fuͤhlen lernen; nie haben dieſe hiſtoriſche Beſchrei- bungen, Auslegungen, Erklaͤrungen ſo viel Eindruck in uns, als die ſinnliche Gegen- wart dieſer Oerter; nie das Leben der An- ſchauung, als wenn wir ſie ſelbſt ſaͤhen; als wenn unſere Seele durchs Auge brennende Pfeile empfaͤnde, als wenn uns die Muſe wirklich ergriffe und weckte; als wenn wir μουσοληπτοι oder μουσοπατακτοι wuͤrden; und ſo waren es die Poeten des Orients: „Jch bin der Nede ſo voll, daß mich der „Othem

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/41>, abgerufen am 25.04.2024.