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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

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möchte: so fehlt uns doch noch immer zu
viel, unsern dichterischen Stoff bis auf klei-
ne Nuancen aus ihrer Geschichte zu borgen.
Unser Publikum, das die Juden blos aus ei-
nem Hübner oder Jken kennet, wird einen
ewigen Commentar nöthig haben, und Schön-
heiten, die für das Auge dastehen, mit dem
Fernglase ansehen müssen. Und der Dichter
selbst wird Mühe genug haben, in den Orien-
talischen Gedichten die beständigen feinen An-
spielungen auf ihre Rettungen von Feinden,
auf ihre Urväter, auf die Aegyptische Erret-
tung, auf ihre Reise durch die Wüste u. s. w.
nur überall bemerken zu können; nur höch-
stens die Hälfte von ihnen zu verlieren. Sie
ganz besitzen zu wollen, ihre Schilderung
selbst zu übernehmen -- das thut nur der, so
das Lächerliche einer halbgetroffenen Nachah-
mung nicht einsieht. Wer hätte uns eher den
Moses im Heldengedichte singen können, als
Michaelis; und dennoch ließ er ihn liegen,
nach der weisen Horazischen Regel:

Si quae desperas tractata nitescere posse
- - - relinque.

Könn-
P

moͤchte: ſo fehlt uns doch noch immer zu
viel, unſern dichteriſchen Stoff bis auf klei-
ne Nuancen aus ihrer Geſchichte zu borgen.
Unſer Publikum, das die Juden blos aus ei-
nem Huͤbner oder Jken kennet, wird einen
ewigen Commentar noͤthig haben, und Schoͤn-
heiten, die fuͤr das Auge daſtehen, mit dem
Fernglaſe anſehen muͤſſen. Und der Dichter
ſelbſt wird Muͤhe genug haben, in den Orien-
taliſchen Gedichten die beſtaͤndigen feinen An-
ſpielungen auf ihre Rettungen von Feinden,
auf ihre Urvaͤter, auf die Aegyptiſche Erret-
tung, auf ihre Reiſe durch die Wuͤſte u. ſ. w.
nur uͤberall bemerken zu koͤnnen; nur hoͤch-
ſtens die Haͤlfte von ihnen zu verlieren. Sie
ganz beſitzen zu wollen, ihre Schilderung
ſelbſt zu uͤbernehmen — das thut nur der, ſo
das Laͤcherliche einer halbgetroffenen Nachah-
mung nicht einſieht. Wer haͤtte uns eher den
Moſes im Heldengedichte ſingen koͤnnen, als
Michaelis; und dennoch ließ er ihn liegen,
nach der weiſen Horaziſchen Regel:

Si quae deſperas tractata niteſcere poſſe
- - - relinque.

Koͤnn-
P
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[213/0045] moͤchte: ſo fehlt uns doch noch immer zu viel, unſern dichteriſchen Stoff bis auf klei- ne Nuancen aus ihrer Geſchichte zu borgen. Unſer Publikum, das die Juden blos aus ei- nem Huͤbner oder Jken kennet, wird einen ewigen Commentar noͤthig haben, und Schoͤn- heiten, die fuͤr das Auge daſtehen, mit dem Fernglaſe anſehen muͤſſen. Und der Dichter ſelbſt wird Muͤhe genug haben, in den Orien- taliſchen Gedichten die beſtaͤndigen feinen An- ſpielungen auf ihre Rettungen von Feinden, auf ihre Urvaͤter, auf die Aegyptiſche Erret- tung, auf ihre Reiſe durch die Wuͤſte u. ſ. w. nur uͤberall bemerken zu koͤnnen; nur hoͤch- ſtens die Haͤlfte von ihnen zu verlieren. Sie ganz beſitzen zu wollen, ihre Schilderung ſelbſt zu uͤbernehmen — das thut nur der, ſo das Laͤcherliche einer halbgetroffenen Nachah- mung nicht einſieht. Wer haͤtte uns eher den Moſes im Heldengedichte ſingen koͤnnen, als Michaelis; und dennoch ließ er ihn liegen, nach der weiſen Horaziſchen Regel: Si quae deſperas tractata niteſcere poſſe - - - relinque. Koͤnn- P

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/45>, abgerufen am 29.03.2024.