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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

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"uns?" Jch gebe es zu: und habe doch
nicht meine Parallele verlohren. Jhnen ward
es mit der Zeit gleichgültiger; aber uns noch
ungleich eher und stärker; weil alle diese Ge-
schichte für uns fremder und entfernter sind.
Man sey unpartheiisch; wer kann wohl bei
uns den besten Cramerischen Dankpsalm mit
der Entzückung singen, wenn er National-
wohlthaten betrift, als Jsrael in seinem Hei-
ligthum? Wer singt die Cantate des Za-
chariä
mit eben der Theilnehmung, als Mir-
jam
und Moses die ihrige am rothen Meere?
Es kann immer seyn, daß "ein Genie im
"Talmud seine völlige Nahrung finden könne,
"als in einer Wissenschaft"* aber ein Poe-
tisches
Genie, das nach Materialien zur
Dichtkunst gräbt? Schwerlich! wenn es un-
serm National- oder Seculargeist sich beque-
men will.



3.

Mit diesem Nationalgeist sind auch die Na-
tionalvorurtheile
sehr genau verbunden;

Mei-
* Litter. Br. Th. 2. p. 256.
P 2

„uns?„ Jch gebe es zu: und habe doch
nicht meine Parallele verlohren. Jhnen ward
es mit der Zeit gleichguͤltiger; aber uns noch
ungleich eher und ſtaͤrker; weil alle dieſe Ge-
ſchichte fuͤr uns fremder und entfernter ſind.
Man ſey unpartheiiſch; wer kann wohl bei
uns den beſten Crameriſchen Dankpſalm mit
der Entzuͤckung ſingen, wenn er National-
wohlthaten betrift, als Jſrael in ſeinem Hei-
ligthum? Wer ſingt die Cantate des Za-
chariaͤ
mit eben der Theilnehmung, als Mir-
jam
und Moſes die ihrige am rothen Meere?
Es kann immer ſeyn, daß „ein Genie im
„Talmud ſeine voͤllige Nahrung finden koͤnne,
„als in einer Wiſſenſchaft* aber ein Poe-
tiſches
Genie, das nach Materialien zur
Dichtkunſt graͤbt? Schwerlich! wenn es un-
ſerm National- oder Seculargeiſt ſich beque-
men will.



3.

Mit dieſem Nationalgeiſt ſind auch die Na-
tionalvorurtheile
ſehr genau verbunden;

Mei-
* Litter. Br. Th. 2. p. 256.
P 2
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[215/0047] „uns?„ Jch gebe es zu: und habe doch nicht meine Parallele verlohren. Jhnen ward es mit der Zeit gleichguͤltiger; aber uns noch ungleich eher und ſtaͤrker; weil alle dieſe Ge- ſchichte fuͤr uns fremder und entfernter ſind. Man ſey unpartheiiſch; wer kann wohl bei uns den beſten Crameriſchen Dankpſalm mit der Entzuͤckung ſingen, wenn er National- wohlthaten betrift, als Jſrael in ſeinem Hei- ligthum? Wer ſingt die Cantate des Za- chariaͤ mit eben der Theilnehmung, als Mir- jam und Moſes die ihrige am rothen Meere? Es kann immer ſeyn, daß „ein Genie im „Talmud ſeine voͤllige Nahrung finden koͤnne, „als in einer Wiſſenſchaft„ * aber ein Poe- tiſches Genie, das nach Materialien zur Dichtkunſt graͤbt? Schwerlich! wenn es un- ſerm National- oder Seculargeiſt ſich beque- men will. 3. Mit dieſem Nationalgeiſt ſind auch die Na- tionalvorurtheile ſehr genau verbunden; Mei- * Litter. Br. Th. 2. p. 256. P 2

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/47>, abgerufen am 29.03.2024.