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[Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774.

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was für wechselseitiger Haß, Abneigung ge-
gen die Fremden, Festsetzung auf seinen Mit-
telpunkt, väterliche Vorurtheile, Hangen an
der Erdscholle, an der wir gebohren sind und
auf der wir verwesen sollen! Eeinheimische
Denkart! enger Kreis von Jdeen -- ewige
Barbarey! bey uns sind Gottlob! alle Na-
tionalcharaktere
ausgelöscht! wir lieben uns
alle, oder vielmehr keiner bedarfs den andern
zu lieben; wir gehen mit einander um, sind
einander völlig gleich -- gesittet, höflich,
glückselig!
haben zwar kein Vaterland, keine
Unsern für die wir leben; aber sind Men-
schenfreunde
und Weltbürger. Schon jetzt
alle Regenten Europa's, bald werden wir alle
die französische Sprache reden! -- Und denn --
Glückseligkeit! es fängt wieder die güldne Zeit
an, "da hatte alle Welt einerley Zunge und
"Sprache! wird Eine Heerde und Ein Hirte
"werden!" Nationalcharaktere, wo seyd ihr?

"Lebensart und Sitten Europa's! Wie
spät
reifte in den gothischen Zeiten des Chri-
stenthums die Jugend: Kaum im dreysigsten
Jahre mündig: man verlohr den halben Theil
seines Lebens in einer elenden Kindheit. Phi-
losophie, Erziehung
und gute Sitten welche

neue



was fuͤr wechſelſeitiger Haß, Abneigung ge-
gen die Fremden, Feſtſetzung auf ſeinen Mit-
telpunkt, vaͤterliche Vorurtheile, Hangen an
der Erdſcholle, an der wir gebohren ſind und
auf der wir verweſen ſollen! Eeinheimiſche
Denkart! enger Kreis von Jdeen — ewige
Barbarey! bey uns ſind Gottlob! alle Na-
tionalcharaktere
ausgeloͤſcht! wir lieben uns
alle, oder vielmehr keiner bedarfs den andern
zu lieben; wir gehen mit einander um, ſind
einander voͤllig gleich — geſittet, hoͤflich,
gluͤckſelig!
haben zwar kein Vaterland, keine
Unſern fuͤr die wir leben; aber ſind Men-
ſchenfreunde
und Weltbuͤrger. Schon jetzt
alle Regenten Europa’s, bald werden wir alle
die franzoͤſiſche Sprache reden! — Und denn —
Gluͤckſeligkeit! es faͤngt wieder die guͤldne Zeit
an, „da hatte alle Welt einerley Zunge und
Sprache! wird Eine Heerde und Ein Hirte
werden!„ Nationalcharaktere, wo ſeyd ihr?

Lebensart und Sitten Europa’s! Wie
ſpaͤt
reifte in den gothiſchen Zeiten des Chri-
ſtenthums die Jugend: Kaum im dreyſigſten
Jahre muͤndig: man verlohr den halben Theil
ſeines Lebens in einer elenden Kindheit. Phi-
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[127/0131] was fuͤr wechſelſeitiger Haß, Abneigung ge- gen die Fremden, Feſtſetzung auf ſeinen Mit- telpunkt, vaͤterliche Vorurtheile, Hangen an der Erdſcholle, an der wir gebohren ſind und auf der wir verweſen ſollen! Eeinheimiſche Denkart! enger Kreis von Jdeen — ewige Barbarey! bey uns ſind Gottlob! alle Na- tionalcharaktere ausgeloͤſcht! wir lieben uns alle, oder vielmehr keiner bedarfs den andern zu lieben; wir gehen mit einander um, ſind einander voͤllig gleich — geſittet, hoͤflich, gluͤckſelig! haben zwar kein Vaterland, keine Unſern fuͤr die wir leben; aber ſind Men- ſchenfreunde und Weltbuͤrger. Schon jetzt alle Regenten Europa’s, bald werden wir alle die franzoͤſiſche Sprache reden! — Und denn — Gluͤckſeligkeit! es faͤngt wieder die guͤldne Zeit an, „da hatte alle Welt einerley Zunge und „Sprache! wird Eine Heerde und Ein Hirte „werden!„ Nationalcharaktere, wo ſeyd ihr? „Lebensart und Sitten Europa’s! Wie ſpaͤt reifte in den gothiſchen Zeiten des Chri- ſtenthums die Jugend: Kaum im dreyſigſten Jahre muͤndig: man verlohr den halben Theil ſeines Lebens in einer elenden Kindheit. Phi- loſophie, Erziehung und gute Sitten welche neue

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/131>, abgerufen am 24.04.2024.