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[Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774.

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Stande so gemeinerer Seele, als jener Linsen-
werfer, nur glücklich geworfen zu haben, oder
jener Flötenspieler, der nur die Löcher
trift --

Mit dir rede ich lieber, Hirt deiner Heer-
de, Vater, Mutter in der armen Hütte! Auch
dir sind tausend Antriebe und Lockungen ge-
nommen, die dir einst dein Vatergeschäft zum
Himmel machten. Kannst dein Kind nicht be-
stimmen! wird dir frühe vielleicht in der Wiege
schon mit einer Ehrenfessel der Freyheit --
höchstes Jdeal unsrer Philosophen! -- gezeich-
net: Kannsts nicht für väterlichen Heerd, Va-
tersitten, Tugend und Daseyn erziehen -- es
mangelt dir also schon immer Kreis, und da
alles verwirret ist, und läuft die erleichternste
Triebfeder
der Erziehung, Absicht. Mußt
besorgen, daß, so bald es dir aus den Hän-
den gerissen wird, es mit Einmal ins große
Lichtmeer des Jahrhunderts, Abgrund! sinke --
Versunknes Kleinod! unwiederbringliche Exi-
stenz einer Menschenseele! der blüthenreiche
Baum, zu früh aus seiner Muttererde geris-
sen, in eine Welt von Stürmen verpflanzt,
denen der härteste Stamm oft kaum bestehet,
vielleicht gar dahin eingepflanzt mit verkehrtem

En-



Stande ſo gemeinerer Seele, als jener Linſen-
werfer, nur gluͤcklich geworfen zu haben, oder
jener Floͤtenſpieler, der nur die Loͤcher
trift —

Mit dir rede ich lieber, Hirt deiner Heer-
de, Vater, Mutter in der armen Huͤtte! Auch
dir ſind tauſend Antriebe und Lockungen ge-
nommen, die dir einſt dein Vatergeſchaͤft zum
Himmel machten. Kannſt dein Kind nicht be-
ſtimmen! wird dir fruͤhe vielleicht in der Wiege
ſchon mit einer Ehrenfeſſel der Freyheit —
hoͤchſtes Jdeal unſrer Philoſophen! — gezeich-
net: Kannſts nicht fuͤr vaͤterlichen Heerd, Va-
terſitten, Tugend und Daſeyn erziehen — es
mangelt dir alſo ſchon immer Kreis, und da
alles verwirret iſt, und laͤuft die erleichternſte
Triebfeder
der Erziehung, Abſicht. Mußt
beſorgen, daß, ſo bald es dir aus den Haͤn-
den geriſſen wird, es mit Einmal ins große
Lichtmeer des Jahrhunderts, Abgrund! ſinke —
Verſunknes Kleinod! unwiederbringliche Exi-
ſtenz einer Menſchenſeele! der bluͤthenreiche
Baum, zu fruͤh aus ſeiner Muttererde geriſ-
ſen, in eine Welt von Stuͤrmen verpflanzt,
denen der haͤrteſte Stamm oft kaum beſtehet,
vielleicht gar dahin eingepflanzt mit verkehrtem

En-
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[164/0168] Stande ſo gemeinerer Seele, als jener Linſen- werfer, nur gluͤcklich geworfen zu haben, oder jener Floͤtenſpieler, der nur die Loͤcher trift — Mit dir rede ich lieber, Hirt deiner Heer- de, Vater, Mutter in der armen Huͤtte! Auch dir ſind tauſend Antriebe und Lockungen ge- nommen, die dir einſt dein Vatergeſchaͤft zum Himmel machten. Kannſt dein Kind nicht be- ſtimmen! wird dir fruͤhe vielleicht in der Wiege ſchon mit einer Ehrenfeſſel der Freyheit — hoͤchſtes Jdeal unſrer Philoſophen! — gezeich- net: Kannſts nicht fuͤr vaͤterlichen Heerd, Va- terſitten, Tugend und Daſeyn erziehen — es mangelt dir alſo ſchon immer Kreis, und da alles verwirret iſt, und laͤuft die erleichternſte Triebfeder der Erziehung, Abſicht. Mußt beſorgen, daß, ſo bald es dir aus den Haͤn- den geriſſen wird, es mit Einmal ins große Lichtmeer des Jahrhunderts, Abgrund! ſinke — Verſunknes Kleinod! unwiederbringliche Exi- ſtenz einer Menſchenſeele! der bluͤthenreiche Baum, zu fruͤh aus ſeiner Muttererde geriſ- ſen, in eine Welt von Stuͤrmen verpflanzt, denen der haͤrteſte Stamm oft kaum beſtehet, vielleicht gar dahin eingepflanzt mit verkehrtem En-

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/168>, abgerufen am 25.04.2024.