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[Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774.

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II. Also von diesen kleinfügigen Einwen-
dungen, Zweck und Gesichtspunkt verfehlend,
hinweg! hingestellt in die Absicht des großen
Folgeganzen -- wie elend werden "manche
"Modeurtheile unsers Jahrhunderts über
"Vorzüge, Tugenden, Glückseligkeit so ent-
"fernter, so abwechselnder Nationen, aus
"blos allgemeinen Begriffen der Schule!"

Jst die menschliche Natur keine im Guten
selbstständige Gottheit: sie muß alles lernen,
durch Fortgänge gebildet werden, im all-
mähligen Kampf
immer weiter schreiten; na-
türlich wird sie also von den Seiten am mei-
sten,
oder allein gebildet, wo sie dergleichen
Anlässe zur Tugend, zum Kampf, zum Fort-
gange hat -- Jn gewissem Betracht ist also
jede menschliche Vollkommenheit National, Sä-
kular
und am genauesten betrachtet, Jndivi-
duell.
Man bildet nichts aus als wozu Zeit,
Klima, Bedürfniß, Welt, Schicksal,
An-
laß giebt: von übrigen abgekehrt: die Nei-
gungen oder Fähigkeiten, im Herzen schlum-
mernd, können nimmer Fertigkeiten wer-
den; die Nation kann also bey Tugenden der
erhabensten Gattung von einer Seite, von einer
andern Mängel
haben, Ausnahmen machen,

Wi-


II. Alſo von dieſen kleinfuͤgigen Einwen-
dungen, Zweck und Geſichtspunkt verfehlend,
hinweg! hingeſtellt in die Abſicht des großen
Folgeganzen — wie elend werden „manche
„Modeurtheile unſers Jahrhunderts uͤber
„Vorzuͤge, Tugenden, Gluͤckſeligkeit ſo ent-
„fernter, ſo abwechſelnder Nationen, aus
„blos allgemeinen Begriffen der Schule!„

Jſt die menſchliche Natur keine im Guten
ſelbſtſtaͤndige Gottheit: ſie muß alles lernen,
durch Fortgaͤnge gebildet werden, im all-
maͤhligen Kampf
immer weiter ſchreiten; na-
tuͤrlich wird ſie alſo von den Seiten am mei-
ſten,
oder allein gebildet, wo ſie dergleichen
Anlaͤſſe zur Tugend, zum Kampf, zum Fort-
gange hat — Jn gewiſſem Betracht iſt alſo
jede menſchliche Vollkommenheit National, Saͤ-
kular
und am genaueſten betrachtet, Jndivi-
duell.
Man bildet nichts aus als wozu Zeit,
Klima, Beduͤrfniß, Welt, Schickſal,
An-
laß giebt: von uͤbrigen abgekehrt: die Nei-
gungen oder Faͤhigkeiten, im Herzen ſchlum-
mernd, koͤnnen nimmer Fertigkeiten wer-
den; die Nation kann alſo bey Tugenden der
erhabenſten Gattung von einer Seite, von einer
andern Maͤngel
haben, Ausnahmen machen,

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[50/0054] II. Alſo von dieſen kleinfuͤgigen Einwen- dungen, Zweck und Geſichtspunkt verfehlend, hinweg! hingeſtellt in die Abſicht des großen Folgeganzen — wie elend werden „manche „Modeurtheile unſers Jahrhunderts uͤber „Vorzuͤge, Tugenden, Gluͤckſeligkeit ſo ent- „fernter, ſo abwechſelnder Nationen, aus „blos allgemeinen Begriffen der Schule!„ Jſt die menſchliche Natur keine im Guten ſelbſtſtaͤndige Gottheit: ſie muß alles lernen, durch Fortgaͤnge gebildet werden, im all- maͤhligen Kampf immer weiter ſchreiten; na- tuͤrlich wird ſie alſo von den Seiten am mei- ſten, oder allein gebildet, wo ſie dergleichen Anlaͤſſe zur Tugend, zum Kampf, zum Fort- gange hat — Jn gewiſſem Betracht iſt alſo jede menſchliche Vollkommenheit National, Saͤ- kular und am genaueſten betrachtet, Jndivi- duell. Man bildet nichts aus als wozu Zeit, Klima, Beduͤrfniß, Welt, Schickſal, An- laß giebt: von uͤbrigen abgekehrt: die Nei- gungen oder Faͤhigkeiten, im Herzen ſchlum- mernd, koͤnnen nimmer Fertigkeiten wer- den; die Nation kann alſo bey Tugenden der erhabenſten Gattung von einer Seite, von einer andern Maͤngel haben, Ausnahmen machen, Wi-

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/54>, abgerufen am 19.04.2024.