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[Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774.

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Zweifel in hundert Gestalten, alle aber mit
dem blendenden Titel "aus der Geschichte der
"Welt!"
Widersprüche und Meereswogen:
man scheitert, oder was man von Moralität
und Phiosophie aus dem Schiffbruche rettet,
ist kaum der Rede werth.

Sollte es nicht offenbaren Fortgang und
Entwicklung aber in einem höhern Sinne ge-
ben, als mans gewähnet hat? Siehest du die-
sen Strom fortschwimmen: wie er aus einer
kleinen Quelle entsprang, wächst, dort ab-
reißt, hier ansetzt, sich immer schlängelt und
weitet und tiefer bohret -- bleibt aber im-
mer Wasser! Strom! Tropfe! immer nur
Tropfe, bis er ins Meer stürzt -- wenns so
mit dem menschlichen Geschlechte wäre? Oder
siehest du jenen wachsenden Baum! jenen em-
porstrebenden Menschen! er muß durch ver-
schiedne Lebensalter hindurch! alle offenbar im
Fortgange! ein Streben auf einander in
Kontinuität! Zwischen jedem sind scheinbare
Ruheplätze, Revolutionen! Veränderun-
gen!
und dennoch hat jedes den Mittelpunkt
seiner Glückseligkeit in sich selbst! der Jüng-
ling ist nicht glücklicher als das unschuldige,
zufriedne Kind: noch der ruhige Greis un-

glück-



Zweifel in hundert Geſtalten, alle aber mit
dem blendenden Titel „aus der Geſchichte der
„Welt!„
Widerſpruͤche und Meereswogen:
man ſcheitert, oder was man von Moralitaͤt
und Phioſophie aus dem Schiffbruche rettet,
iſt kaum der Rede werth.

Sollte es nicht offenbaren Fortgang und
Entwicklung aber in einem hoͤhern Sinne ge-
ben, als mans gewaͤhnet hat? Sieheſt du die-
ſen Strom fortſchwimmen: wie er aus einer
kleinen Quelle entſprang, waͤchſt, dort ab-
reißt, hier anſetzt, ſich immer ſchlaͤngelt und
weitet und tiefer bohret — bleibt aber im-
mer Waſſer! Strom! Tropfe! immer nur
Tropfe, bis er ins Meer ſtuͤrzt — wenns ſo
mit dem menſchlichen Geſchlechte waͤre? Oder
ſieheſt du jenen wachſenden Baum! jenen em-
porſtrebenden Menſchen! er muß durch ver-
ſchiedne Lebensalter hindurch! alle offenbar im
Fortgange! ein Streben auf einander in
Kontinuitaͤt! Zwiſchen jedem ſind ſcheinbare
Ruheplaͤtze, Revolutionen! Veraͤnderun-
gen!
und dennoch hat jedes den Mittelpunkt
ſeiner Gluͤckſeligkeit in ſich ſelbſt! der Juͤng-
ling iſt nicht gluͤcklicher als das unſchuldige,
zufriedne Kind: noch der ruhige Greis un-

gluͤck-
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[61/0065] Zweifel in hundert Geſtalten, alle aber mit dem blendenden Titel „aus der Geſchichte der „Welt!„ Widerſpruͤche und Meereswogen: man ſcheitert, oder was man von Moralitaͤt und Phioſophie aus dem Schiffbruche rettet, iſt kaum der Rede werth. Sollte es nicht offenbaren Fortgang und Entwicklung aber in einem hoͤhern Sinne ge- ben, als mans gewaͤhnet hat? Sieheſt du die- ſen Strom fortſchwimmen: wie er aus einer kleinen Quelle entſprang, waͤchſt, dort ab- reißt, hier anſetzt, ſich immer ſchlaͤngelt und weitet und tiefer bohret — bleibt aber im- mer Waſſer! Strom! Tropfe! immer nur Tropfe, bis er ins Meer ſtuͤrzt — wenns ſo mit dem menſchlichen Geſchlechte waͤre? Oder ſieheſt du jenen wachſenden Baum! jenen em- porſtrebenden Menſchen! er muß durch ver- ſchiedne Lebensalter hindurch! alle offenbar im Fortgange! ein Streben auf einander in Kontinuitaͤt! Zwiſchen jedem ſind ſcheinbare Ruheplaͤtze, Revolutionen! Veraͤnderun- gen! und dennoch hat jedes den Mittelpunkt ſeiner Gluͤckſeligkeit in ſich ſelbſt! der Juͤng- ling iſt nicht gluͤcklicher als das unſchuldige, zufriedne Kind: noch der ruhige Greis un- gluͤck-

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/65>, abgerufen am 25.04.2024.