Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



da die Stärke jedes einzelnen Nationalcha-
rakters verlohren gangen war,
siehe eben
in dieser Mischung, Ersatz, und Fortgang
ins Grosse. Von Orient bis Rom wars Stamm:
jetzt giengen aus dem Stamme Aeste und Zwei-
ge;
keiner an sich stammfest, aber ausge-
breiteter, luftiger, höher!
Bey aller Barba-
rey waren die Känntnisse, die man schola-
stisch
behandelte, feiner und höher: Die
Empfindungen, die man barbarisch und pfaf-
fenmässig
anwandte, abstrahirter und höher:
aus beyden flossen die Sitten, das Bild je-
ner. Von solcher Religion, so elend sie im-
mer aussah, hatte doch kaum ein Zeitalter
vorher gewußt: selbst das Feinere der tür-
kischen
Religion, was unsre Deisten ihr so hoch
anrechnen, war nur "durch die christliche
Religion" entstanden,
und selbst die elend-
sten
Spitzfündigkeiten der Möncherey, die
romanhaftesten Phantastereyen zeigen, daß
Feinheit und Gewandtheit gnug in der Welt
war, dergleichen auszudenken, zu fassen: --
daß man würklich scharf anfieng in so feinem
Elemente zu athmen. Pabstthum hätte doch
nie in Griechenland und dem alten Rom exsi-
stiren können, nicht blos aus den Ursachen,
die man gewöhnlich ansieht, sondern würk-

lich



da die Staͤrke jedes einzelnen Nationalcha-
rakters verlohren gangen war,
ſiehe eben
in dieſer Miſchung, Erſatz, und Fortgang
ins Groſſe. Von Orient bis Rom wars Stamm:
jetzt giengen aus dem Stamme Aeſte und Zwei-
ge;
keiner an ſich ſtammfeſt, aber ausge-
breiteter, luftiger, hoͤher!
Bey aller Barba-
rey waren die Kaͤnntniſſe, die man ſchola-
ſtiſch
behandelte, feiner und hoͤher: Die
Empfindungen, die man barbariſch und pfaf-
fenmaͤſſig
anwandte, abſtrahirter und hoͤher:
aus beyden floſſen die Sitten, das Bild je-
ner. Von ſolcher Religion, ſo elend ſie im-
mer ausſah, hatte doch kaum ein Zeitalter
vorher gewußt: ſelbſt das Feinere der tuͤr-
kiſchen
Religion, was unſre Deiſten ihr ſo hoch
anrechnen, war nur „durch die chriſtliche
Religion„ entſtanden,
und ſelbſt die elend-
ſten
Spitzfuͤndigkeiten der Moͤncherey, die
romanhafteſten Phantaſtereyen zeigen, daß
Feinheit und Gewandtheit gnug in der Welt
war, dergleichen auszudenken, zu faſſen:
daß man wuͤrklich ſcharf anfieng in ſo feinem
Elemente zu athmen. Pabſtthum haͤtte doch
nie in Griechenland und dem alten Rom exſi-
ſtiren koͤnnen, nicht blos aus den Urſachen,
die man gewoͤhnlich anſieht, ſondern wuͤrk-

lich
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0092" n="88"/><fw place="top" type="header"><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/></fw><hi rendition="#b">da die Sta&#x0364;rke jedes einzelnen Nationalcha-<lb/>
rakters verlohren gangen war,</hi> &#x017F;iehe eben<lb/>
in die&#x017F;er <hi rendition="#b">Mi&#x017F;chung, Er&#x017F;atz,</hi> und <hi rendition="#b">Fortgang</hi><lb/>
ins <hi rendition="#b">Gro&#x017F;&#x017F;e.</hi> Von Orient bis Rom wars <hi rendition="#b">Stamm:</hi><lb/>
jetzt giengen aus dem Stamme <hi rendition="#b">Ae&#x017F;te</hi> und <hi rendition="#b">Zwei-<lb/>
ge;</hi> keiner an &#x017F;ich <hi rendition="#b">&#x017F;tammfe&#x017F;t,</hi> aber <hi rendition="#b">ausge-<lb/>
breiteter, luftiger, ho&#x0364;her!</hi> Bey aller Barba-<lb/>
rey waren die <hi rendition="#b">Ka&#x0364;nntni&#x017F;&#x017F;e,</hi> die man <hi rendition="#b">&#x017F;chola-<lb/>
&#x017F;ti&#x017F;ch</hi> behandelte, <hi rendition="#b">feiner</hi> und <hi rendition="#b">ho&#x0364;her:</hi> Die<lb/><hi rendition="#b">Empfindungen,</hi> die man <hi rendition="#b">barbari&#x017F;ch</hi> und <hi rendition="#b">pfaf-<lb/>
fenma&#x0364;&#x017F;&#x017F;ig</hi> anwandte, <hi rendition="#b">ab&#x017F;trahirter</hi> und <hi rendition="#b">ho&#x0364;her:</hi><lb/>
aus beyden flo&#x017F;&#x017F;en die <hi rendition="#b">Sitten,</hi> das Bild je-<lb/>
ner. Von <hi rendition="#b">&#x017F;olcher Religion,</hi> &#x017F;o elend &#x017F;ie im-<lb/>
mer aus&#x017F;ah, hatte doch kaum ein Zeitalter<lb/>
vorher gewußt: &#x017F;elb&#x017F;t das Feinere der <hi rendition="#b">tu&#x0364;r-<lb/>
ki&#x017F;chen</hi> Religion, was un&#x017F;re Dei&#x017F;ten ihr &#x017F;o hoch<lb/>
anrechnen, war nur <hi rendition="#b">&#x201E;durch die chri&#x017F;tliche<lb/>
Religion&#x201E; ent&#x017F;tanden,</hi> und &#x017F;elb&#x017F;t die <hi rendition="#b">elend-<lb/>
&#x017F;ten</hi> Spitzfu&#x0364;ndigkeiten der Mo&#x0364;ncherey, die<lb/><hi rendition="#b">romanhafte&#x017F;ten</hi> Phanta&#x017F;tereyen zeigen, daß<lb/><hi rendition="#b">Feinheit</hi> und <hi rendition="#b">Gewandtheit</hi> gnug in der Welt<lb/><hi rendition="#b">war,</hi> dergleichen <hi rendition="#b">auszudenken,</hi> zu <hi rendition="#b">fa&#x017F;&#x017F;en:</hi> &#x2014;<lb/>
daß man wu&#x0364;rklich &#x017F;charf anfieng in &#x017F;o <hi rendition="#b">feinem</hi><lb/>
Elemente zu athmen. <hi rendition="#b">Pab&#x017F;tthum</hi> ha&#x0364;tte doch<lb/>
nie in <hi rendition="#b">Griechenland</hi> und dem <hi rendition="#b">alten Rom</hi> ex&#x017F;i-<lb/>
&#x017F;tiren ko&#x0364;nnen, nicht blos aus den Ur&#x017F;achen,<lb/>
die man gewo&#x0364;hnlich an&#x017F;ieht, &#x017F;ondern wu&#x0364;rk-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">lich</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[88/0092] da die Staͤrke jedes einzelnen Nationalcha- rakters verlohren gangen war, ſiehe eben in dieſer Miſchung, Erſatz, und Fortgang ins Groſſe. Von Orient bis Rom wars Stamm: jetzt giengen aus dem Stamme Aeſte und Zwei- ge; keiner an ſich ſtammfeſt, aber ausge- breiteter, luftiger, hoͤher! Bey aller Barba- rey waren die Kaͤnntniſſe, die man ſchola- ſtiſch behandelte, feiner und hoͤher: Die Empfindungen, die man barbariſch und pfaf- fenmaͤſſig anwandte, abſtrahirter und hoͤher: aus beyden floſſen die Sitten, das Bild je- ner. Von ſolcher Religion, ſo elend ſie im- mer ausſah, hatte doch kaum ein Zeitalter vorher gewußt: ſelbſt das Feinere der tuͤr- kiſchen Religion, was unſre Deiſten ihr ſo hoch anrechnen, war nur „durch die chriſtliche Religion„ entſtanden, und ſelbſt die elend- ſten Spitzfuͤndigkeiten der Moͤncherey, die romanhafteſten Phantaſtereyen zeigen, daß Feinheit und Gewandtheit gnug in der Welt war, dergleichen auszudenken, zu faſſen: — daß man wuͤrklich ſcharf anfieng in ſo feinem Elemente zu athmen. Pabſtthum haͤtte doch nie in Griechenland und dem alten Rom exſi- ſtiren koͤnnen, nicht blos aus den Urſachen, die man gewoͤhnlich anſieht, ſondern wuͤrk- lich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/92
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/92>, abgerufen am 24.04.2024.