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[Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774.

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mer weniger Er, wenn ich so sagen darf, als
ein blindes Schicksal, was die Dinge warf
und lenkte, an dieser allgemeinen Weltverän-
derung
würkte. Entweder warens so große,
gleichsam hingeworfene Begebenheiten, die
über alle menschliche Kräfte und Aussichten
giengen, denen sich die Menschen meistens wi-
dersetzten,
wo niemand die Folge, als über-
legten Plan,
träumte, oder es waren kleine
Zufälle, mehr Funde, als Erfindungen,
Anwendungen einer Sache, die man lange
gehabt,
und nicht gesehen, nicht gebraucht
hatte -- oder gar nichts als simple Mechanik,
neuer Kunstgrif, Handwerk, das die Welt
änderte -- Philosophen des achtzehnten Jahr-
hunderts, wenn das ist, wo bleibt eure Ab-
götterey
gegen den menschlichen Geist?

Wer legte hier Venedig an diesem Platze,
unter dem tiefsten Bedrängniß der Noth an?
und wer überdachte, was dies Venedig, allein
an diesem Platze, ein Jahrtausend hindurch,
allen Völkern der Erde seyn konnte und sollte?
Der diesen Sund von Jnseln in den Morast
warf, der diese wenigen Fischer dahinleitete,
war derselbe, der das Saamenkorn fallen
läßt, das zu der Zeit und an dem Orte eine

Eiche



mer weniger Er, wenn ich ſo ſagen darf, als
ein blindes Schickſal, was die Dinge warf
und lenkte, an dieſer allgemeinen Weltveraͤn-
derung
wuͤrkte. Entweder warens ſo große,
gleichſam hingeworfene Begebenheiten, die
uͤber alle menſchliche Kraͤfte und Ausſichten
giengen, denen ſich die Menſchen meiſtens wi-
derſetzten,
wo niemand die Folge, als uͤber-
legten Plan,
traͤumte, oder es waren kleine
Zufaͤlle, mehr Funde, als Erfindungen,
Anwendungen einer Sache, die man lange
gehabt,
und nicht geſehen, nicht gebraucht
hatte — oder gar nichts als ſimple Mechanik,
neuer Kunſtgrif, Handwerk, das die Welt
aͤnderte — Philoſophen des achtzehnten Jahr-
hunderts, wenn das iſt, wo bleibt eure Ab-
goͤtterey
gegen den menſchlichen Geiſt?

Wer legte hier Venedig an dieſem Platze,
unter dem tiefſten Bedraͤngniß der Noth an?
und wer uͤberdachte, was dies Venedig, allein
an dieſem Platze, ein Jahrtauſend hindurch,
allen Voͤlkern der Erde ſeyn konnte und ſollte?
Der dieſen Sund von Jnſeln in den Moraſt
warf, der dieſe wenigen Fiſcher dahinleitete,
war derſelbe, der das Saamenkorn fallen
laͤßt, das zu der Zeit und an dem Orte eine

Eiche
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[93/0097] mer weniger Er, wenn ich ſo ſagen darf, als ein blindes Schickſal, was die Dinge warf und lenkte, an dieſer allgemeinen Weltveraͤn- derung wuͤrkte. Entweder warens ſo große, gleichſam hingeworfene Begebenheiten, die uͤber alle menſchliche Kraͤfte und Ausſichten giengen, denen ſich die Menſchen meiſtens wi- derſetzten, wo niemand die Folge, als uͤber- legten Plan, traͤumte, oder es waren kleine Zufaͤlle, mehr Funde, als Erfindungen, Anwendungen einer Sache, die man lange gehabt, und nicht geſehen, nicht gebraucht hatte — oder gar nichts als ſimple Mechanik, neuer Kunſtgrif, Handwerk, das die Welt aͤnderte — Philoſophen des achtzehnten Jahr- hunderts, wenn das iſt, wo bleibt eure Ab- goͤtterey gegen den menſchlichen Geiſt? Wer legte hier Venedig an dieſem Platze, unter dem tiefſten Bedraͤngniß der Noth an? und wer uͤberdachte, was dies Venedig, allein an dieſem Platze, ein Jahrtauſend hindurch, allen Voͤlkern der Erde ſeyn konnte und ſollte? Der dieſen Sund von Jnſeln in den Moraſt warf, der dieſe wenigen Fiſcher dahinleitete, war derſelbe, der das Saamenkorn fallen laͤßt, das zu der Zeit und an dem Orte eine Eiche

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/97>, abgerufen am 25.04.2024.