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Hering, Ewald: Zur Lehre vom Lichtsinne. Zweiter, unveränderter Abdruck. Wien, 1878.

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stände nennen will), d. i. zur Summe der Größen aller
entsprechenden psychophysischen Processe
.

Die meisten Empfindungen, welche wir als einfache hinnehmen, sind
höchst zusammengesetzt; diejenige Partialempfindung, welche das größte
Gewicht hat, gibt der Totalempfindung ihren Charakter und Namen. Sinkt
der Bruchtheil, welcher vom Gesammtgewichte einer Empfindung auf eine
ihrer Componenten kommt, unter einen gewissen Werth, so sind wir nicht
mehr im Stande, diese Componente als solche herauszufühlen. Gleichwohl
wirkt auch eine so schwache Componente an der Empfindung mit und be-
stimmt mit ihren Charakter, ihre Qualität. Fechner würde sagen, die Par-
tialempfindung bleibe "unter der Schwelle". So ist jede Gesichtsempfindung,
wie ich später darzuthun suchen werde, aus mehreren einfachen Empfin-
dungen zusammengesetzt, und wenn ich hier die Empfindungen der schwarz-
weißen Reihe als nur binäre Empfindungen hingestellt habe, so geschah es
vorläufig im Interesse der Einfachheit der Darstellung. Im Schwarz und
Weiß sind eben die gleichzeitig mit empfundenen Farben "unter der Schwelle",
weil ihr relatives Gewicht zu klein ist.

§. 30.
Über den Unterschied zwischen Erregbarkeit und
Empfindlichkeit
.

Die allgemeine Physiologie ist auf Grund zahlreicher Erfah-
rungen zu dem Satze gelangt, daß die Erregung wächst mit der
Größe des Reizes, und zwar versteht sie hiebei unter Reiz immer
einen D-Reiz und unter Erregung die Dissimilirung. Denn mit
den A-Reizen und mit der von denselben abhängigen Assimilirung
hat sich die Physiologie bis jetzt nicht eingehender beschäftigt,
obwohl die Assimilirung ein Proceß von derselben Bedeutung ist,
wie die Dissimilirung, und man daher eigentlich zwei verschie-
dene Arten der Erregung zu unterscheiden hat.

Wenn nun die Helligkeit einer farblosen Gesichtsempfindung
abhängt von dem Verhältnisse dieser beiden immer gleichzeitig
in der Sehsubstanz stattfindenden Erregungen, nämlich der Dissi-
milirung (D) und der Assimilirung (A), so ist ersichtlich, daß
die D-Erregbarkeit kein Maaß der Empfindlichkeit für Helligkeiten
sein kann.

Gesetzten Falls die Empfindung des mittlen Grau, dessen
Helligkeit nach meiner Bezeichnung (vergl. §. 22) gleich 0·5 ist,
sollte derart verändert werden, daß sie um ein eben Merkliches
an Helligkeit gewänne, so wäre dies, ganz theoretisch genommen,

stände nennen will), d. i. zur Summe der Größen aller
entsprechenden psychophysischen Processe
.

Die meisten Empfindungen, welche wir als einfache hinnehmen, sind
höchst zusammengesetzt; diejenige Partialempfindung, welche das größte
Gewicht hat, gibt der Totalempfindung ihren Charakter und Namen. Sinkt
der Bruchtheil, welcher vom Gesammtgewichte einer Empfindung auf eine
ihrer Componenten kommt, unter einen gewissen Werth, so sind wir nicht
mehr im Stande, diese Componente als solche herauszufühlen. Gleichwohl
wirkt auch eine so schwache Componente an der Empfindung mit und be-
stimmt mit ihren Charakter, ihre Qualität. Fechner würde sagen, die Par-
tialempfindung bleibe „unter der Schwelle“. So ist jede Gesichtsempfindung,
wie ich später darzuthun suchen werde, aus mehreren einfachen Empfin-
dungen zusammengesetzt, und wenn ich hier die Empfindungen der schwarz-
weißen Reihe als nur binäre Empfindungen hingestellt habe, so geschah es
vorläufig im Interesse der Einfachheit der Darstellung. Im Schwarz und
Weiß sind eben die gleichzeitig mit empfundenen Farben „unter der Schwelle“,
weil ihr relatives Gewicht zu klein ist.

§. 30.
Über den Unterschied zwischen Erregbarkeit und
Empfindlichkeit
.

Die allgemeine Physiologie ist auf Grund zahlreicher Erfah-
rungen zu dem Satze gelangt, daß die Erregung wächst mit der
Größe des Reizes, und zwar versteht sie hiebei unter Reiz immer
einen D-Reiz und unter Erregung die Dissimilirung. Denn mit
den A-Reizen und mit der von denselben abhängigen Assimilirung
hat sich die Physiologie bis jetzt nicht eingehender beschäftigt,
obwohl die Assimilirung ein Proceß von derselben Bedeutung ist,
wie die Dissimilirung, und man daher eigentlich zwei verschie-
dene Arten der Erregung zu unterscheiden hat.

Wenn nun die Helligkeit einer farblosen Gesichtsempfindung
abhängt von dem Verhältnisse dieser beiden immer gleichzeitig
in der Sehsubstanz stattfindenden Erregungen, nämlich der Dissi-
milirung (D) und der Assimilirung (A), so ist ersichtlich, daß
die D-Erregbarkeit kein Maaß der Empfindlichkeit für Helligkeiten
sein kann.

Gesetzten Falls die Empfindung des mittlen Grau, dessen
Helligkeit nach meiner Bezeichnung (vergl. §. 22) gleich 0·5 ist,
sollte derart verändert werden, daß sie um ein eben Merkliches
an Helligkeit gewänne, so wäre dies, ganz theoretisch genommen,

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[85/0093] stände nennen will), d. i. zur Summe der Größen aller entsprechenden psychophysischen Processe. Die meisten Empfindungen, welche wir als einfache hinnehmen, sind höchst zusammengesetzt; diejenige Partialempfindung, welche das größte Gewicht hat, gibt der Totalempfindung ihren Charakter und Namen. Sinkt der Bruchtheil, welcher vom Gesammtgewichte einer Empfindung auf eine ihrer Componenten kommt, unter einen gewissen Werth, so sind wir nicht mehr im Stande, diese Componente als solche herauszufühlen. Gleichwohl wirkt auch eine so schwache Componente an der Empfindung mit und be- stimmt mit ihren Charakter, ihre Qualität. Fechner würde sagen, die Par- tialempfindung bleibe „unter der Schwelle“. So ist jede Gesichtsempfindung, wie ich später darzuthun suchen werde, aus mehreren einfachen Empfin- dungen zusammengesetzt, und wenn ich hier die Empfindungen der schwarz- weißen Reihe als nur binäre Empfindungen hingestellt habe, so geschah es vorläufig im Interesse der Einfachheit der Darstellung. Im Schwarz und Weiß sind eben die gleichzeitig mit empfundenen Farben „unter der Schwelle“, weil ihr relatives Gewicht zu klein ist. §. 30. Über den Unterschied zwischen Erregbarkeit und Empfindlichkeit. Die allgemeine Physiologie ist auf Grund zahlreicher Erfah- rungen zu dem Satze gelangt, daß die Erregung wächst mit der Größe des Reizes, und zwar versteht sie hiebei unter Reiz immer einen D-Reiz und unter Erregung die Dissimilirung. Denn mit den A-Reizen und mit der von denselben abhängigen Assimilirung hat sich die Physiologie bis jetzt nicht eingehender beschäftigt, obwohl die Assimilirung ein Proceß von derselben Bedeutung ist, wie die Dissimilirung, und man daher eigentlich zwei verschie- dene Arten der Erregung zu unterscheiden hat. Wenn nun die Helligkeit einer farblosen Gesichtsempfindung abhängt von dem Verhältnisse dieser beiden immer gleichzeitig in der Sehsubstanz stattfindenden Erregungen, nämlich der Dissi- milirung (D) und der Assimilirung (A), so ist ersichtlich, daß die D-Erregbarkeit kein Maaß der Empfindlichkeit für Helligkeiten sein kann. Gesetzten Falls die Empfindung des mittlen Grau, dessen Helligkeit nach meiner Bezeichnung (vergl. §. 22) gleich 0·5 ist, sollte derart verändert werden, daß sie um ein eben Merkliches an Helligkeit gewänne, so wäre dies, ganz theoretisch genommen,

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Zitationshilfe: Hering, Ewald: Zur Lehre vom Lichtsinne. Zweiter, unveränderter Abdruck. Wien, 1878, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hering_lichtsinn_1878/93>, abgerufen am 19.03.2024.