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Hering, Ewald: Zur Lehre vom Lichtsinne. Zweiter, unveränderter Abdruck. Wien, 1878.

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daß nur der unter dem directen Einflusse des Lichtes stattfin-
dende chemische Proceß, die Dissimilirung, empfunden werde,
ist offenbar einseitig und ungerechtfertigt; dagegen erscheint es
von vornherein angemessen, beiden Arten des chemischen Pro-
cesses gleich großen Werth für die Empfindung zuzuschreiben.
Dies führt aber zu nichts anderem, als zu der oben aufgestellten
Hypothese. Denn wir brauchen dieselbe nur noch dahin zu
präcisiren, daß der Empfindung des Weißen oder
Hellen die Dissimilirung, der Empfindung des
Schwarzen oder Dunklen die Assimilirung der Seh-
substanz entspricht
, und die Hypothese genügt dann, wie
ich zeigen werde, nicht nur den Thatsachen der Empfindung,
sondern auch den Anforderungen der allgemeinen Nerven-
physiologie.

Wenn meine Hypothese richtig ist, so haben wir in den
Gesichtsempfindungen ein Mittel, den Ernährungsproceß der Seh-
substanz und seine zwei Hauptfactoren, die Dissimilirung und
Assimilirung, genau zu beobachten. Nicht also handelt es sich
fortan nur darum, daß vom Auge dem menschlichen Geiste ein
Complex von Empfindungen übergeben wird, die derselbe dann
mit Hilfe richtiger und falscher Urtheile oder Schlüsse zu Vor-
stellungen verarbeitet, sondern was uns als Gesichts-
empfindung zum Bewußtsein kommt, ist der psy-
chische Ausdruck oder das bewußte Correlat des
Stoffwechsels der Sehsubstanz
.

Für diesen Stoffwechsel haben wir also ein Reagens von
großer Empfindlichkeit, nämlich unser Bewußtsein. Freilich,
über die Art der chemischen Verbindungen oder Zersetzungen
sagt es uns zunächst noch nichts aus, wohl aber verräth es uns
den ganzen zeitlichen Verlauf der Assimilirung und Dissimilirung,
das Gesetz ihrer Abhängigkeit von einander und von den Äther-
schwingungen, das Steigen und Sinken der Erregbarkeit der Seh-
substanz und die Abhängigkeit dieser Erregbarkeitsänderungen
von der Dissimilirung und Assimilirung. So erst wird das Ca-
pitel von den Gesichtsempfindungen zu einem wahrhaft integri-
renden Abschnitte der Physiologie, während es bisher nothwen-
digerweise mehr physikalische und philosophische Erörterungen
enthielt, als eigentlich physiologische.

daß nur der unter dem directen Einflusse des Lichtes stattfin-
dende chemische Proceß, die Dissimilirung, empfunden werde,
ist offenbar einseitig und ungerechtfertigt; dagegen erscheint es
von vornherein angemessen, beiden Arten des chemischen Pro-
cesses gleich großen Werth für die Empfindung zuzuschreiben.
Dies führt aber zu nichts anderem, als zu der oben aufgestellten
Hypothese. Denn wir brauchen dieselbe nur noch dahin zu
präcisiren, daß der Empfindung des Weißen oder
Hellen die Dissimilirung, der Empfindung des
Schwarzen oder Dunklen die Assimilirung der Seh-
substanz entspricht
, und die Hypothese genügt dann, wie
ich zeigen werde, nicht nur den Thatsachen der Empfindung,
sondern auch den Anforderungen der allgemeinen Nerven-
physiologie.

Wenn meine Hypothese richtig ist, so haben wir in den
Gesichtsempfindungen ein Mittel, den Ernährungsproceß der Seh-
substanz und seine zwei Hauptfactoren, die Dissimilirung und
Assimilirung, genau zu beobachten. Nicht also handelt es sich
fortan nur darum, daß vom Auge dem menschlichen Geiste ein
Complex von Empfindungen übergeben wird, die derselbe dann
mit Hilfe richtiger und falscher Urtheile oder Schlüsse zu Vor-
stellungen verarbeitet, sondern was uns als Gesichts-
empfindung zum Bewußtsein kommt, ist der psy-
chische Ausdruck oder das bewußte Correlat des
Stoffwechsels der Sehsubstanz
.

Für diesen Stoffwechsel haben wir also ein Reagens von
großer Empfindlichkeit, nämlich unser Bewußtsein. Freilich,
über die Art der chemischen Verbindungen oder Zersetzungen
sagt es uns zunächst noch nichts aus, wohl aber verräth es uns
den ganzen zeitlichen Verlauf der Assimilirung und Dissimilirung,
das Gesetz ihrer Abhängigkeit von einander und von den Äther-
schwingungen, das Steigen und Sinken der Erregbarkeit der Seh-
substanz und die Abhängigkeit dieser Erregbarkeitsänderungen
von der Dissimilirung und Assimilirung. So erst wird das Ca-
pitel von den Gesichtsempfindungen zu einem wahrhaft integri-
renden Abschnitte der Physiologie, während es bisher nothwen-
digerweise mehr physikalische und philosophische Erörterungen
enthielt, als eigentlich physiologische.

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[79/0087] daß nur der unter dem directen Einflusse des Lichtes stattfin- dende chemische Proceß, die Dissimilirung, empfunden werde, ist offenbar einseitig und ungerechtfertigt; dagegen erscheint es von vornherein angemessen, beiden Arten des chemischen Pro- cesses gleich großen Werth für die Empfindung zuzuschreiben. Dies führt aber zu nichts anderem, als zu der oben aufgestellten Hypothese. Denn wir brauchen dieselbe nur noch dahin zu präcisiren, daß der Empfindung des Weißen oder Hellen die Dissimilirung, der Empfindung des Schwarzen oder Dunklen die Assimilirung der Seh- substanz entspricht, und die Hypothese genügt dann, wie ich zeigen werde, nicht nur den Thatsachen der Empfindung, sondern auch den Anforderungen der allgemeinen Nerven- physiologie. Wenn meine Hypothese richtig ist, so haben wir in den Gesichtsempfindungen ein Mittel, den Ernährungsproceß der Seh- substanz und seine zwei Hauptfactoren, die Dissimilirung und Assimilirung, genau zu beobachten. Nicht also handelt es sich fortan nur darum, daß vom Auge dem menschlichen Geiste ein Complex von Empfindungen übergeben wird, die derselbe dann mit Hilfe richtiger und falscher Urtheile oder Schlüsse zu Vor- stellungen verarbeitet, sondern was uns als Gesichts- empfindung zum Bewußtsein kommt, ist der psy- chische Ausdruck oder das bewußte Correlat des Stoffwechsels der Sehsubstanz. Für diesen Stoffwechsel haben wir also ein Reagens von großer Empfindlichkeit, nämlich unser Bewußtsein. Freilich, über die Art der chemischen Verbindungen oder Zersetzungen sagt es uns zunächst noch nichts aus, wohl aber verräth es uns den ganzen zeitlichen Verlauf der Assimilirung und Dissimilirung, das Gesetz ihrer Abhängigkeit von einander und von den Äther- schwingungen, das Steigen und Sinken der Erregbarkeit der Seh- substanz und die Abhängigkeit dieser Erregbarkeitsänderungen von der Dissimilirung und Assimilirung. So erst wird das Ca- pitel von den Gesichtsempfindungen zu einem wahrhaft integri- renden Abschnitte der Physiologie, während es bisher nothwen- digerweise mehr physikalische und philosophische Erörterungen enthielt, als eigentlich physiologische.

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Zitationshilfe: Hering, Ewald: Zur Lehre vom Lichtsinne. Zweiter, unveränderter Abdruck. Wien, 1878, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hering_lichtsinn_1878/87>, abgerufen am 29.03.2024.