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Herzl, Theodor: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Leipzig u. a., 1896.

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gefangen fortführte, da erschienen die angesehensten Leute auf
dem Bahnhof, sagten ihm herzlich Lebewohl und - Auf Wiedersehen!
Denn er wird wiederkommen.

Was sagt diese Geschichte alles! Ein neues Leben vermag
selbst Verbrecher zu bessern. Und wir haben doch verhältnissmässig
sehr wenige Verbrecher. Man lese dazu eine interessante
Statistik "Die Kriminalität der Juden in Deutschland", die von
Dr. P. Nathan in Berlin - im Auftrage des Comites zur Abwehr
antisemitischer Angriffe - auf Grund amtlicher Ausweise
zusammengestellt wurde. Freilich geht aber diese zahlenerfüllte
Schrift, wie manche andere "Abwehr" von dem Irrthum aus,
dass sich der Antisemitismus vernünftig widerlegen lasse. Man
hasst uns vermuthlich ebensosehr wegen unserer Vorzüge, wie
wegen unserer Fehler.



Vortheile der Judenwanderung.

Ich denke mir, dass die Regierungen diesem Entwurfe
freiwillig oder unter dem Drucke ihrer Antisemiten einige Aufmerksamkeit
schenken werden, und vielleicht wird man sogar
da und dort von Anfang an dem Plane mit Sympathie entgegenkommen,
und es der Society of Jews auch zeigen.

Denn durch die Judenwanderung, die ich meine, können
keine wirthschaftlichen Krisen entstehen. Solche Krisen, die im
Gefolge von Judenhetzen überall kommen müssten, würden durch
die Ausführung dieses Entwurfes vielmehr verhindert werden.
Eine grosse Periode der Wohlfahrt würde in den jetzt antisemitischen
Ländern beginnen. Es wird ja, wie ich schon oft
sagte, eine innere Wanderung der christlichen Staatsbürger in
die langsam und planvoll evacuirten Positionen der Juden stattfinden.
Wenn man uns nicht nur gewähren lässt, sondern geradezu
hilft, so wird die Bewegung überall befruchtend wirken. Es
ist auch eine bornirte Vorstellung, von der man sich frei machen
muss, dass durch den Abzug vieler Juden eine Verarmung der
Länder eintreten müsste. Anders stellt sich ein Abzug infolge
von Hetzen dar, wobei allerdings, wie in der Verwirrung eines
Krieges, Güter zerstört werden. Und anders ist der friedliche
freiwillige Abzug von Colonisten, wobei alles unter Schonung
erworbener Rechte, in vollster Gesetzlichkeit, frei und offen, am
hellen Tage, unter den Augen der Behörden, unter der Controle
der öffentlichen Meinung vollzogen werden kann. Die Auswande-

gefangen fortführte, da erschienen die angesehensten Leute auf
dem Bahnhof, sagten ihm herzlich Lebewohl und – Auf Wiedersehen!
Denn er wird wiederkommen.

Was sagt diese Geschichte alles! Ein neues Leben vermag
selbst Verbrecher zu bessern. Und wir haben doch verhältnissmässig
sehr wenige Verbrecher. Man lese dazu eine interessante
Statistik „Die Kriminalität der Juden in Deutschland“, die von
Dr. P. Nathan in Berlin – im Auftrage des Comités zur Abwehr
antisemitischer Angriffe – auf Grund amtlicher Ausweise
zusammengestellt wurde. Freilich geht aber diese zahlenerfüllte
Schrift, wie manche andere „Abwehr“ von dem Irrthum aus,
dass sich der Antisemitismus vernünftig widerlegen lasse. Man
hasst uns vermuthlich ebensosehr wegen unserer Vorzüge, wie
wegen unserer Fehler.



Vortheile der Judenwanderung.

Ich denke mir, dass die Regierungen diesem Entwurfe
freiwillig oder unter dem Drucke ihrer Antisemiten einige Aufmerksamkeit
schenken werden, und vielleicht wird man sogar
da und dort von Anfang an dem Plane mit Sympathie entgegenkommen,
und es der Society of Jews auch zeigen.

Denn durch die Judenwanderung, die ich meine, können
keine wirthschaftlichen Krisen entstehen. Solche Krisen, die im
Gefolge von Judenhetzen überall kommen müssten, würden durch
die Ausführung dieses Entwurfes vielmehr verhindert werden.
Eine grosse Periode der Wohlfahrt würde in den jetzt antisemitischen
Ländern beginnen. Es wird ja, wie ich schon oft
sagte, eine innere Wanderung der christlichen Staatsbürger in
die langsam und planvoll evacuirten Positionen der Juden stattfinden.
Wenn man uns nicht nur gewähren lässt, sondern geradezu
hilft, so wird die Bewegung überall befruchtend wirken. Es
ist auch eine bornirte Vorstellung, von der man sich frei machen
muss, dass durch den Abzug vieler Juden eine Verarmung der
Länder eintreten müsste. Anders stellt sich ein Abzug infolge
von Hetzen dar, wobei allerdings, wie in der Verwirrung eines
Krieges, Güter zerstört werden. Und anders ist der friedliche
freiwillige Abzug von Colonisten, wobei alles unter Schonung
erworbener Rechte, in vollster Gesetzlichkeit, frei und offen, am
hellen Tage, unter den Augen der Behörden, unter der Controle
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Zitationshilfe: Herzl, Theodor: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Leipzig u. a., 1896, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herzl_judenstaat_1896/78>, abgerufen am 19.04.2024.