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Heyden, Friedrich von: Der graue John. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 13. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 177–231. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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anbetraf, nicht seiner Meinung. Den Bettler an der Börse kannten sie wohl, ohne zu wissen, daß man ihn den grauen John nenne. Er war wenigstens siebzigjährig, bucklig, von Gicht zusammengezogen, lahm, und so schwach, daß er sich nur mit Hülfe seines Besens und einer Krücke aufrecht erhielt. Der Held ihres Abenteuers dagegen war groß, stark, gesund, wohlgebaut, rüstig und kaum in den Vierzigen. Die Identität der Person war mithin nicht denkbar, und wollte man nicht an Zauberei glauben, so mußte man annehmen, daß zwei ganz verschiedene Menschen zufällig durch eine und die nämliche Benennung bezeichnet würden. Der Fremde gab dies zu, und indem er, wie nach gleichem Ziele strebend, mit den jungen Leuten fortwandelte, verwickelte er sich in höchst anziehende Gespräche. Die Scenerie des Parks brachte nämlich auf Shakespeare's Schauspiel "Wie es euch gefällt." Der Fremde hob die Eigenthümlichkeiten, den Humor, die Charaktere dieser bezaubernden Dichtung aufs Treffendste und Anziehendste hervor, erklärte seine Liebhaberei für den melancholischen Jacques, entwickelte aufs Bezeichnendste, wie ein solcher Charakter sich im Leben gestalten könne, wie er zu behandeln, wie er zu heilen sei, und sprang in der Mitte der Betrachtungen unerwartet da ab, wo sie vom Innern des Sprechenden mehr ausschließen konnten, als er Preis zu geben beabsichtigte. Diese originelle Wendung machte den Unbekannten unseren Jünglingen um so interessanter, und

anbetraf, nicht seiner Meinung. Den Bettler an der Börse kannten sie wohl, ohne zu wissen, daß man ihn den grauen John nenne. Er war wenigstens siebzigjährig, bucklig, von Gicht zusammengezogen, lahm, und so schwach, daß er sich nur mit Hülfe seines Besens und einer Krücke aufrecht erhielt. Der Held ihres Abenteuers dagegen war groß, stark, gesund, wohlgebaut, rüstig und kaum in den Vierzigen. Die Identität der Person war mithin nicht denkbar, und wollte man nicht an Zauberei glauben, so mußte man annehmen, daß zwei ganz verschiedene Menschen zufällig durch eine und die nämliche Benennung bezeichnet würden. Der Fremde gab dies zu, und indem er, wie nach gleichem Ziele strebend, mit den jungen Leuten fortwandelte, verwickelte er sich in höchst anziehende Gespräche. Die Scenerie des Parks brachte nämlich auf Shakespeare's Schauspiel „Wie es euch gefällt.“ Der Fremde hob die Eigenthümlichkeiten, den Humor, die Charaktere dieser bezaubernden Dichtung aufs Treffendste und Anziehendste hervor, erklärte seine Liebhaberei für den melancholischen Jacques, entwickelte aufs Bezeichnendste, wie ein solcher Charakter sich im Leben gestalten könne, wie er zu behandeln, wie er zu heilen sei, und sprang in der Mitte der Betrachtungen unerwartet da ab, wo sie vom Innern des Sprechenden mehr ausschließen konnten, als er Preis zu geben beabsichtigte. Diese originelle Wendung machte den Unbekannten unseren Jünglingen um so interessanter, und

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[0019] anbetraf, nicht seiner Meinung. Den Bettler an der Börse kannten sie wohl, ohne zu wissen, daß man ihn den grauen John nenne. Er war wenigstens siebzigjährig, bucklig, von Gicht zusammengezogen, lahm, und so schwach, daß er sich nur mit Hülfe seines Besens und einer Krücke aufrecht erhielt. Der Held ihres Abenteuers dagegen war groß, stark, gesund, wohlgebaut, rüstig und kaum in den Vierzigen. Die Identität der Person war mithin nicht denkbar, und wollte man nicht an Zauberei glauben, so mußte man annehmen, daß zwei ganz verschiedene Menschen zufällig durch eine und die nämliche Benennung bezeichnet würden. Der Fremde gab dies zu, und indem er, wie nach gleichem Ziele strebend, mit den jungen Leuten fortwandelte, verwickelte er sich in höchst anziehende Gespräche. Die Scenerie des Parks brachte nämlich auf Shakespeare's Schauspiel „Wie es euch gefällt.“ Der Fremde hob die Eigenthümlichkeiten, den Humor, die Charaktere dieser bezaubernden Dichtung aufs Treffendste und Anziehendste hervor, erklärte seine Liebhaberei für den melancholischen Jacques, entwickelte aufs Bezeichnendste, wie ein solcher Charakter sich im Leben gestalten könne, wie er zu behandeln, wie er zu heilen sei, und sprang in der Mitte der Betrachtungen unerwartet da ab, wo sie vom Innern des Sprechenden mehr ausschließen konnten, als er Preis zu geben beabsichtigte. Diese originelle Wendung machte den Unbekannten unseren Jünglingen um so interessanter, und

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T11:12:58Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Heyden, Friedrich von: Der graue John. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 13. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 177–231. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyden_john_1910/19>, abgerufen am 23.04.2024.