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Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855.

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halb offen steht, findet die Lehne des Bettes, huscht
auf den Zehen an des Schlafenden Seite und mit
verhaltenem Athem über ihn gebeugt, reißt sie sich
rasch die Binde von den Augen.

Aber sie erschrickt, da es dunkel bleibt wie zuvor.
Sie hatte vergessen, daß es Nacht sei und daß man
ihr gesagt hatte, in der Nacht seien die Menschen
allzumal blind. Sie hatte gedacht, es müsse eine
Klarheit ausströmen von einem sehenden Auge und
so sich und die Dinge erleuchten. Nun fühlte sie den
Hauch des Knaben sanft an ihre Augen wehen, aber
sie unterschied keine Gestalt. Schon will sie bestürzt
und fast verzweifelnd wieder zurück -- da flammt
durch die nicht mehr genau verhüllten Scheiben ein
secundenlanger Blitz, dann ein zweiter und dritter,
die Luft wogt von Helle hin und her, Donner und
Regenguß wachsen an Lärm --; sie aber starrt einen
Augenblick auf das Lockenhaupt, das sanft in die
Kissen gedrückt da lag; dann verschwimmt das Bild,
die Augen thränen gewaltsam, und von unaussprech¬
licher Angst aufgescheucht flieht sie in ihre Kammer,
legt die Binde um, sinkt aufs Bett, und in ihr ist
es, als wisse sie es unerschütterlich, daß sie gesehen
hat zum ersten und letzten Male.


halb offen ſteht, findet die Lehne des Bettes, huſcht
auf den Zehen an des Schlafenden Seite und mit
verhaltenem Athem über ihn gebeugt, reißt ſie ſich
raſch die Binde von den Augen.

Aber ſie erſchrickt, da es dunkel bleibt wie zuvor.
Sie hatte vergeſſen, daß es Nacht ſei und daß man
ihr geſagt hatte, in der Nacht ſeien die Menſchen
allzumal blind. Sie hatte gedacht, es müſſe eine
Klarheit ausſtrömen von einem ſehenden Auge und
ſo ſich und die Dinge erleuchten. Nun fühlte ſie den
Hauch des Knaben ſanft an ihre Augen wehen, aber
ſie unterſchied keine Geſtalt. Schon will ſie beſtürzt
und faſt verzweifelnd wieder zurück — da flammt
durch die nicht mehr genau verhüllten Scheiben ein
ſecundenlanger Blitz, dann ein zweiter und dritter,
die Luft wogt von Helle hin und her, Donner und
Regenguß wachſen an Lärm —; ſie aber ſtarrt einen
Augenblick auf das Lockenhaupt, das ſanft in die
Kiſſen gedrückt da lag; dann verſchwimmt das Bild,
die Augen thränen gewaltſam, und von unausſprech¬
licher Angſt aufgeſcheucht flieht ſie in ihre Kammer,
legt die Binde um, ſinkt aufs Bett, und in ihr iſt
es, als wiſſe ſie es unerſchütterlich, daß ſie geſehen
hat zum erſten und letzten Male.


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[18/0030] halb offen ſteht, findet die Lehne des Bettes, huſcht auf den Zehen an des Schlafenden Seite und mit verhaltenem Athem über ihn gebeugt, reißt ſie ſich raſch die Binde von den Augen. Aber ſie erſchrickt, da es dunkel bleibt wie zuvor. Sie hatte vergeſſen, daß es Nacht ſei und daß man ihr geſagt hatte, in der Nacht ſeien die Menſchen allzumal blind. Sie hatte gedacht, es müſſe eine Klarheit ausſtrömen von einem ſehenden Auge und ſo ſich und die Dinge erleuchten. Nun fühlte ſie den Hauch des Knaben ſanft an ihre Augen wehen, aber ſie unterſchied keine Geſtalt. Schon will ſie beſtürzt und faſt verzweifelnd wieder zurück — da flammt durch die nicht mehr genau verhüllten Scheiben ein ſecundenlanger Blitz, dann ein zweiter und dritter, die Luft wogt von Helle hin und her, Donner und Regenguß wachſen an Lärm —; ſie aber ſtarrt einen Augenblick auf das Lockenhaupt, das ſanft in die Kiſſen gedrückt da lag; dann verſchwimmt das Bild, die Augen thränen gewaltſam, und von unausſprech¬ licher Angſt aufgeſcheucht flieht ſie in ihre Kammer, legt die Binde um, ſinkt aufs Bett, und in ihr iſt es, als wiſſe ſie es unerſchütterlich, daß ſie geſehen hat zum erſten und letzten Male.

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Zitationshilfe: Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/30>, abgerufen am 29.03.2024.