Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hilbert, David: Mathematische Probleme. Vortrag, gehalten auf dem internationalen Mathematiker-Kongreß zu Paris 1900. Göttingen, 1900.

Bild:
<< vorherige Seite

D. Hilbert,
spruchslosigkeit der Axiome völlig gelungen sein wird, so ver-
lieren die Bedenken, welche bisweilen gegen die Existenz des In-
begriffs der reellen Zahlen gemacht worden sind, jede Berechti-
gung. Freilich der Inbegriff der reellen Zahlen, d. h. das Con-
tinuum ist bei der eben gekennzeichneten Auffassung nicht etwa
die Gesammtheit aller möglichen Dezimalbruchentwicklungen oder
die Gesammtheit aller möglichen Gesetze, nach denen die Elemente
einer Fundamentalreihe fortschreiten können, sondern ein System
von Dingen, deren gegenseitige Beziehungen durch die aufgestellten
Axiome geregelt werden und für welche alle und nur diejenigen
Thatsachen wahr sind, die durch eine endliche Anzahl logischer
Schlüsse aus den Axiomen gefolgert werden können. Nur in
diesem Sinne ist meiner Meinung nach der Begriff des Continuums
streng logisch faßbar. Thatsächlich entspricht er auch, wie mir
scheint, so am besten dem, was die Erfahrung und Anschauung
uns giebt. Der Begriff des Continuums oder auch der Begriff
des Systems aller Functionen existirt dann in genau demselben
Sinne wie etwa das System der ganzen rationalen Zahlen oder
auch wie die höheren Cantorschen Zahlklassen und Mächtig-
keiten. Denn ich bin überzeugt, daß auch die Existenz der letz-
teren in dem von mir bezeichneten Sinne ebenso wie die des Con-
tinuums wird erwiesen werden können -- im Gegensatz zu dem
System aller Mächtigkeiten überhaupt oder auch aller Cantor-
schen
Alephs, für welches, wie sich zeigen läßt, ein wider-
spruchloses System von Axiomen in meinem Sinne nicht aufge-
stellt werden kann und welches daher nach meiner Bezeichnungs-
weise ein mathematisch nicht existirender Begriff ist.


Aus dem Gebiete der Grundlagen der Geometrie möchte ich
zunächst das folgende Problem nennen.

3. Die Volumengleichheit zweier Tetraeder von gleicher Grundfläche und Höhe.

Gauss 1) spricht in zwei Briefen an Gerling sein Bedauern
darüber aus, daß gewisse Sätze der Stereometrie von der Exhau-
stionsmethode, d. h. in der modernen Ausdrucksweise von dem
Stetigkeitsaxiom (oder von dem Archimedischen Axiome) ab-
hängig sind. Gauss nennt besonders den Satz von Euklid,
daß dreiseitige Pyramiden von gleicher Höhe sich wie ihre Grund-
flächen verhalten. Nun ist die analoge Aufgabe in der Ebene

1) Werke, Bd. 8, S. 241 und 244.

D. Hilbert,
spruchslosigkeit der Axiome völlig gelungen sein wird, so ver-
lieren die Bedenken, welche bisweilen gegen die Existenz des In-
begriffs der reellen Zahlen gemacht worden sind, jede Berechti-
gung. Freilich der Inbegriff der reellen Zahlen, d. h. das Con-
tinuum ist bei der eben gekennzeichneten Auffassung nicht etwa
die Gesammtheit aller möglichen Dezimalbruchentwicklungen oder
die Gesammtheit aller möglichen Gesetze, nach denen die Elemente
einer Fundamentalreihe fortschreiten können, sondern ein System
von Dingen, deren gegenseitige Beziehungen durch die aufgestellten
Axiome geregelt werden und für welche alle und nur diejenigen
Thatsachen wahr sind, die durch eine endliche Anzahl logischer
Schlüsse aus den Axiomen gefolgert werden können. Nur in
diesem Sinne ist meiner Meinung nach der Begriff des Continuums
streng logisch faßbar. Thatsächlich entspricht er auch, wie mir
scheint, so am besten dem, was die Erfahrung und Anschauung
uns giebt. Der Begriff des Continuums oder auch der Begriff
des Systems aller Functionen existirt dann in genau demselben
Sinne wie etwa das System der ganzen rationalen Zahlen oder
auch wie die höheren Cantorschen Zahlklassen und Mächtig-
keiten. Denn ich bin überzeugt, daß auch die Existenz der letz-
teren in dem von mir bezeichneten Sinne ebenso wie die des Con-
tinuums wird erwiesen werden können — im Gegensatz zu dem
System aller Mächtigkeiten überhaupt oder auch aller Cantor-
schen
Alephs, für welches, wie sich zeigen läßt, ein wider-
spruchloses System von Axiomen in meinem Sinne nicht aufge-
stellt werden kann und welches daher nach meiner Bezeichnungs-
weise ein mathematisch nicht existirender Begriff ist.


Aus dem Gebiete der Grundlagen der Geometrie möchte ich
zunächst das folgende Problem nennen.

3. Die Volumengleichheit zweier Tetraeder von gleicher Grundfläche und Höhe.

Gauss 1) spricht in zwei Briefen an Gerling sein Bedauern
darüber aus, daß gewisse Sätze der Stereometrie von der Exhau-
stionsmethode, d. h. in der modernen Ausdrucksweise von dem
Stetigkeitsaxiom (oder von dem Archimedischen Axiome) ab-
hängig sind. Gauss nennt besonders den Satz von Euklid,
daß dreiseitige Pyramiden von gleicher Höhe sich wie ihre Grund-
flächen verhalten. Nun ist die analoge Aufgabe in der Ebene

1) Werke, Bd. 8, S. 241 und 244.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0022" n="266"/><fw place="top" type="header">D. <hi rendition="#g">Hilbert</hi>,</fw><lb/>
spruchslosigkeit der Axiome völlig gelungen sein wird, so ver-<lb/>
lieren die Bedenken, welche bisweilen gegen die Existenz des In-<lb/>
begriffs der reellen Zahlen gemacht worden sind, jede Berechti-<lb/>
gung. Freilich der Inbegriff der reellen Zahlen, d. h. das Con-<lb/>
tinuum ist bei der eben gekennzeichneten Auffassung nicht etwa<lb/>
die Gesammtheit aller möglichen Dezimalbruchentwicklungen oder<lb/>
die Gesammtheit aller möglichen Gesetze, nach denen die Elemente<lb/>
einer Fundamentalreihe fortschreiten können, sondern ein System<lb/>
von Dingen, deren gegenseitige Beziehungen durch die aufgestellten<lb/>
Axiome geregelt werden und für welche alle und nur diejenigen<lb/>
Thatsachen wahr sind, die durch eine endliche Anzahl logischer<lb/>
Schlüsse aus den Axiomen gefolgert werden können. Nur in<lb/>
diesem Sinne ist meiner Meinung nach der Begriff des Continuums<lb/>
streng logisch faßbar. Thatsächlich entspricht er auch, wie mir<lb/>
scheint, so am besten dem, was die Erfahrung und Anschauung<lb/>
uns giebt. Der Begriff des Continuums oder auch der Begriff<lb/>
des Systems aller Functionen existirt dann in genau demselben<lb/>
Sinne wie etwa das System der ganzen rationalen Zahlen oder<lb/>
auch wie die höheren <hi rendition="#g">Cantorschen</hi> Zahlklassen und Mächtig-<lb/>
keiten. Denn ich bin überzeugt, daß auch die Existenz der letz-<lb/>
teren in dem von mir bezeichneten Sinne ebenso wie die des Con-<lb/>
tinuums wird erwiesen werden können &#x2014; im Gegensatz zu dem<lb/>
System aller Mächtigkeiten überhaupt oder auch aller <hi rendition="#g">Cantor-<lb/>
schen</hi> Alephs, für welches, wie sich zeigen läßt, ein wider-<lb/>
spruchloses System von Axiomen in meinem Sinne nicht aufge-<lb/>
stellt werden kann und welches daher nach meiner Bezeichnungs-<lb/>
weise ein mathematisch nicht existirender Begriff ist.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p>Aus dem Gebiete der Grundlagen der Geometrie möchte ich<lb/>
zunächst das folgende Problem nennen.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head>3. Die Volumengleichheit zweier Tetraeder von gleicher Grundfläche und Höhe.</head><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Gauss</hi><note place="foot" n="1)">Werke, Bd. 8, S. 241 und 244.</note> spricht in zwei Briefen an <hi rendition="#g">Gerling</hi> sein Bedauern<lb/>
darüber aus, daß gewisse Sätze der Stereometrie von der Exhau-<lb/>
stionsmethode, d. h. in der modernen Ausdrucksweise von dem<lb/>
Stetigkeitsaxiom (oder von dem <hi rendition="#g">Archimedischen</hi> Axiome) ab-<lb/>
hängig sind. <hi rendition="#g">Gauss</hi> nennt besonders den Satz von <hi rendition="#g">Euklid</hi>,<lb/>
daß dreiseitige Pyramiden von gleicher Höhe sich wie ihre Grund-<lb/>
flächen verhalten. Nun ist die analoge Aufgabe in der Ebene<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[266/0022] D. Hilbert, spruchslosigkeit der Axiome völlig gelungen sein wird, so ver- lieren die Bedenken, welche bisweilen gegen die Existenz des In- begriffs der reellen Zahlen gemacht worden sind, jede Berechti- gung. Freilich der Inbegriff der reellen Zahlen, d. h. das Con- tinuum ist bei der eben gekennzeichneten Auffassung nicht etwa die Gesammtheit aller möglichen Dezimalbruchentwicklungen oder die Gesammtheit aller möglichen Gesetze, nach denen die Elemente einer Fundamentalreihe fortschreiten können, sondern ein System von Dingen, deren gegenseitige Beziehungen durch die aufgestellten Axiome geregelt werden und für welche alle und nur diejenigen Thatsachen wahr sind, die durch eine endliche Anzahl logischer Schlüsse aus den Axiomen gefolgert werden können. Nur in diesem Sinne ist meiner Meinung nach der Begriff des Continuums streng logisch faßbar. Thatsächlich entspricht er auch, wie mir scheint, so am besten dem, was die Erfahrung und Anschauung uns giebt. Der Begriff des Continuums oder auch der Begriff des Systems aller Functionen existirt dann in genau demselben Sinne wie etwa das System der ganzen rationalen Zahlen oder auch wie die höheren Cantorschen Zahlklassen und Mächtig- keiten. Denn ich bin überzeugt, daß auch die Existenz der letz- teren in dem von mir bezeichneten Sinne ebenso wie die des Con- tinuums wird erwiesen werden können — im Gegensatz zu dem System aller Mächtigkeiten überhaupt oder auch aller Cantor- schen Alephs, für welches, wie sich zeigen läßt, ein wider- spruchloses System von Axiomen in meinem Sinne nicht aufge- stellt werden kann und welches daher nach meiner Bezeichnungs- weise ein mathematisch nicht existirender Begriff ist. Aus dem Gebiete der Grundlagen der Geometrie möchte ich zunächst das folgende Problem nennen. 3. Die Volumengleichheit zweier Tetraeder von gleicher Grundfläche und Höhe. Gauss 1) spricht in zwei Briefen an Gerling sein Bedauern darüber aus, daß gewisse Sätze der Stereometrie von der Exhau- stionsmethode, d. h. in der modernen Ausdrucksweise von dem Stetigkeitsaxiom (oder von dem Archimedischen Axiome) ab- hängig sind. Gauss nennt besonders den Satz von Euklid, daß dreiseitige Pyramiden von gleicher Höhe sich wie ihre Grund- flächen verhalten. Nun ist die analoge Aufgabe in der Ebene 1) Werke, Bd. 8, S. 241 und 244.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hilbert_mathematische_1900
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hilbert_mathematische_1900/22
Zitationshilfe: Hilbert, David: Mathematische Probleme. Vortrag, gehalten auf dem internationalen Mathematiker-Kongreß zu Paris 1900. Göttingen, 1900, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hilbert_mathematische_1900/22>, abgerufen am 28.03.2024.