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Hilbert, David: Mathematische Probleme. Vortrag, gehalten auf dem internationalen Mathematiker-Kongreß zu Paris 1900. Göttingen, 1900.

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D. Hilbert,
6. Mathematische Behandlung der Axiome der Physik.

Durch die Untersuchungen über die Grundlagen der Geometrie
wird uns die Aufgabe nahe gelegt, nach diesem Vorbilde diejenigen
physikalischen Disciplinen axiomatisch zu behandeln, in denen schon
heute die Mathematik eine hervorragende Rolle spielt; dies sind in
erster Linie die Wahrscheinlichkeitsrechnung und die Mechanik
.

Was die Axiome der Wahrscheinlichkeitsrechnung 1) angeht, so
scheint es mir wünschenswert, daß mit der logischen Untersuchung
derselben zugleich eine strenge und befriedigende Entwickelung
der Methode der mittleren Werte in der mathematischen Physik,
speciell in der kinetischen Gastheorie Hand in Hand gehe.

Ueber die Grundlagen der Mechanik liegen von physikalischer
Seite bedeutende Untersuchungen vor; ich weise hin auf die
Schriften von Mach 2), Hertz 3), Boltzmann 4) und Volk-
mann
5); es ist daher sehr wünschenswert, wenn auch von den
Mathematikern die Erörterung der Grundlagen der Mechanik auf-
genommen würde. So regt uns beispielsweise das Boltzmann-
sche Buch über die Principe der Mechanik an, die dort angedeu-
teten Grenzprocesse, die von der atomistischen Auffassung zu den
Gesetzen über die Bewegung der Continua führen, streng mathe-
matisch zu begründen und durchzuführen. Umgekehrt könnte man
die Bewegung über die Gesetze starrer Körper durch Grenzpro-
cesse aus einem System von Axiomen abzuleiten suchen, die auf
der Vorstellung von stetig veränderlichen, durch Parameter zu
definirenden Zuständen eines den ganzen Raum stetig erfüllenden
Stoffes beruhen -- ist doch die Frage nach der Gleichberechtigung
verschiedener Axiomensysteme stets von hohem principiellen In-
teresse.

Soll das Vorbild der Geometrie für die Behandlung der phy-
sikalischen Axiome maßgebend sein, so werden wir versuchen, zu-
nächst durch eine geringe Anzahl von Axiomen eine möglichst all-
gemeine Klasse physikalischer Vorgänge zu umfassen und dann
durch Adjunktion neuer Axiome der Reihe nach zu den specielle-
ren Theorieen zu gelangen -- wobei vielleicht ein Einteilungsprin-

1) Vgl. Bohlmann, Ueber Versicherungsmathematik 2 te Vorlesung aus:
Klein und Riecke, Ueber angewandte Mathematik und Physik, Leipzig und
Berlin 1900.
2) Die Mechanik in ihrer Entwickelung, Leipzig, zweite Auflage. Leipzig 1889.
3) Die Principien der Mechanik, Leipzig 1894.
4) Vorlesungen über die Principe der Mechanik, Leipzig 1897.
5) Einführung in das Studium der theoretischen Physik, Leipzig 1900.
D. Hilbert,
6. Mathematische Behandlung der Axiome der Physik.

Durch die Untersuchungen über die Grundlagen der Geometrie
wird uns die Aufgabe nahe gelegt, nach diesem Vorbilde diejenigen
physikalischen Disciplinen axiomatisch zu behandeln, in denen schon
heute die Mathematik eine hervorragende Rolle spielt; dies sind in
erster Linie die Wahrscheinlichkeitsrechnung und die Mechanik
.

Was die Axiome der Wahrscheinlichkeitsrechnung 1) angeht, so
scheint es mir wünschenswert, daß mit der logischen Untersuchung
derselben zugleich eine strenge und befriedigende Entwickelung
der Methode der mittleren Werte in der mathematischen Physik,
speciell in der kinetischen Gastheorie Hand in Hand gehe.

Ueber die Grundlagen der Mechanik liegen von physikalischer
Seite bedeutende Untersuchungen vor; ich weise hin auf die
Schriften von Mach 2), Hertz 3), Boltzmann 4) und Volk-
mann
5); es ist daher sehr wünschenswert, wenn auch von den
Mathematikern die Erörterung der Grundlagen der Mechanik auf-
genommen würde. So regt uns beispielsweise das Boltzmann-
sche Buch über die Principe der Mechanik an, die dort angedeu-
teten Grenzprocesse, die von der atomistischen Auffassung zu den
Gesetzen über die Bewegung der Continua führen, streng mathe-
matisch zu begründen und durchzuführen. Umgekehrt könnte man
die Bewegung über die Gesetze starrer Körper durch Grenzpro-
cesse aus einem System von Axiomen abzuleiten suchen, die auf
der Vorstellung von stetig veränderlichen, durch Parameter zu
definirenden Zuständen eines den ganzen Raum stetig erfüllenden
Stoffes beruhen — ist doch die Frage nach der Gleichberechtigung
verschiedener Axiomensysteme stets von hohem principiellen In-
teresse.

Soll das Vorbild der Geometrie für die Behandlung der phy-
sikalischen Axiome maßgebend sein, so werden wir versuchen, zu-
nächst durch eine geringe Anzahl von Axiomen eine möglichst all-
gemeine Klasse physikalischer Vorgänge zu umfassen und dann
durch Adjunktion neuer Axiome der Reihe nach zu den specielle-
ren Theorieen zu gelangen — wobei vielleicht ein Einteilungsprin-

1) Vgl. Bohlmann, Ueber Versicherungsmathematik 2 te Vorlesung aus:
Klein und Riecke, Ueber angewandte Mathematik und Physik, Leipzig und
Berlin 1900.
2) Die Mechanik in ihrer Entwickelung, Leipzig, zweite Auflage. Leipzig 1889.
3) Die Principien der Mechanik, Leipzig 1894.
4) Vorlesungen über die Principe der Mechanik, Leipzig 1897.
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[272/0028] D. Hilbert, 6. Mathematische Behandlung der Axiome der Physik. Durch die Untersuchungen über die Grundlagen der Geometrie wird uns die Aufgabe nahe gelegt, nach diesem Vorbilde diejenigen physikalischen Disciplinen axiomatisch zu behandeln, in denen schon heute die Mathematik eine hervorragende Rolle spielt; dies sind in erster Linie die Wahrscheinlichkeitsrechnung und die Mechanik. Was die Axiome der Wahrscheinlichkeitsrechnung 1) angeht, so scheint es mir wünschenswert, daß mit der logischen Untersuchung derselben zugleich eine strenge und befriedigende Entwickelung der Methode der mittleren Werte in der mathematischen Physik, speciell in der kinetischen Gastheorie Hand in Hand gehe. Ueber die Grundlagen der Mechanik liegen von physikalischer Seite bedeutende Untersuchungen vor; ich weise hin auf die Schriften von Mach 2), Hertz 3), Boltzmann 4) und Volk- mann 5); es ist daher sehr wünschenswert, wenn auch von den Mathematikern die Erörterung der Grundlagen der Mechanik auf- genommen würde. So regt uns beispielsweise das Boltzmann- sche Buch über die Principe der Mechanik an, die dort angedeu- teten Grenzprocesse, die von der atomistischen Auffassung zu den Gesetzen über die Bewegung der Continua führen, streng mathe- matisch zu begründen und durchzuführen. Umgekehrt könnte man die Bewegung über die Gesetze starrer Körper durch Grenzpro- cesse aus einem System von Axiomen abzuleiten suchen, die auf der Vorstellung von stetig veränderlichen, durch Parameter zu definirenden Zuständen eines den ganzen Raum stetig erfüllenden Stoffes beruhen — ist doch die Frage nach der Gleichberechtigung verschiedener Axiomensysteme stets von hohem principiellen In- teresse. Soll das Vorbild der Geometrie für die Behandlung der phy- sikalischen Axiome maßgebend sein, so werden wir versuchen, zu- nächst durch eine geringe Anzahl von Axiomen eine möglichst all- gemeine Klasse physikalischer Vorgänge zu umfassen und dann durch Adjunktion neuer Axiome der Reihe nach zu den specielle- ren Theorieen zu gelangen — wobei vielleicht ein Einteilungsprin- 1) Vgl. Bohlmann, Ueber Versicherungsmathematik 2 te Vorlesung aus: Klein und Riecke, Ueber angewandte Mathematik und Physik, Leipzig und Berlin 1900. 2) Die Mechanik in ihrer Entwickelung, Leipzig, zweite Auflage. Leipzig 1889. 3) Die Principien der Mechanik, Leipzig 1894. 4) Vorlesungen über die Principe der Mechanik, Leipzig 1897. 5) Einführung in das Studium der theoretischen Physik, Leipzig 1900.

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Zitationshilfe: Hilbert, David: Mathematische Probleme. Vortrag, gehalten auf dem internationalen Mathematiker-Kongreß zu Paris 1900. Göttingen, 1900, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hilbert_mathematische_1900/28>, abgerufen am 28.03.2024.