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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779.

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immer mit schand- und lasterhaften Men-
schen im Gemeng' ist, bekommt am End' ein
Inquirentengesicht. Er findet überall arme
Sünder
und Sünderinnen, Diebe, Räuber
und Mörder. -- So unter Nathanael, der
den Menschenblick eingebüßet, und nur blos
diesen Blick übrig behalten hatte, den man
nicht Richterblick nennen kann. Dieser Fah-
nenschwung ist ein defensio ex officio, die ich
dem Nathanael schuldig bin. -- Der Pre-
diger, (von dem ich dieses alles haarklein
habe,) und Nathanael sprachen viel von
Menschenkenntniß. Ihr Endurtel war, der
Mensch soll offen seyn; allein er ist unzugang-
bar. Wer die Menschen leicht findet, hat
nicht sie, sondern sich gesucht und gefunden,
wer andere richtet, bestrafet seine Unart in
andern, und glaubt sich eben dadurch weiß
gebrannt zu haben, wie die liebe Unschuld.
-- Wer hinter dem Fenster in seinem ein-
samen Zimmer steht, kann alles ganz deut-
lich wahrnehmen, was auf der Straße vor-
geht, ohnerachtet er von den Leuten auf der
Straße entweder gar nicht, oder doch nicht
deutlich, gesehen wird. Es kommt mehr
Licht aus der Straße ins Zimmer, als aus
dem Zimmer in die Straße. -- -- --

Alle
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immer mit ſchand- und laſterhaften Men-
ſchen im Gemeng’ iſt, bekommt am End’ ein
Inquirentengeſicht. Er findet uͤberall arme
Suͤnder
und Suͤnderinnen, Diebe, Raͤuber
und Moͤrder. — So unter Nathanael, der
den Menſchenblick eingebuͤßet, und nur blos
dieſen Blick uͤbrig behalten hatte, den man
nicht Richterblick nennen kann. Dieſer Fah-
nenſchwung iſt ein defenſio ex officio, die ich
dem Nathanael ſchuldig bin. — Der Pre-
diger, (von dem ich dieſes alles haarklein
habe,) und Nathanael ſprachen viel von
Menſchenkenntniß. Ihr Endurtel war, der
Menſch ſoll offen ſeyn; allein er iſt unzugang-
bar. Wer die Menſchen leicht findet, hat
nicht ſie, ſondern ſich geſucht und gefunden,
wer andere richtet, beſtrafet ſeine Unart in
andern, und glaubt ſich eben dadurch weiß
gebrannt zu haben, wie die liebe Unſchuld.
— Wer hinter dem Fenſter in ſeinem ein-
ſamen Zimmer ſteht, kann alles ganz deut-
lich wahrnehmen, was auf der Straße vor-
geht, ohnerachtet er von den Leuten auf der
Straße entweder gar nicht, oder doch nicht
deutlich, geſehen wird. Es kommt mehr
Licht aus der Straße ins Zimmer, als aus
dem Zimmer in die Straße. — — —

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[501/0511] immer mit ſchand- und laſterhaften Men- ſchen im Gemeng’ iſt, bekommt am End’ ein Inquirentengeſicht. Er findet uͤberall arme Suͤnder und Suͤnderinnen, Diebe, Raͤuber und Moͤrder. — So unter Nathanael, der den Menſchenblick eingebuͤßet, und nur blos dieſen Blick uͤbrig behalten hatte, den man nicht Richterblick nennen kann. Dieſer Fah- nenſchwung iſt ein defenſio ex officio, die ich dem Nathanael ſchuldig bin. — Der Pre- diger, (von dem ich dieſes alles haarklein habe,) und Nathanael ſprachen viel von Menſchenkenntniß. Ihr Endurtel war, der Menſch ſoll offen ſeyn; allein er iſt unzugang- bar. Wer die Menſchen leicht findet, hat nicht ſie, ſondern ſich geſucht und gefunden, wer andere richtet, beſtrafet ſeine Unart in andern, und glaubt ſich eben dadurch weiß gebrannt zu haben, wie die liebe Unſchuld. — Wer hinter dem Fenſter in ſeinem ein- ſamen Zimmer ſteht, kann alles ganz deut- lich wahrnehmen, was auf der Straße vor- geht, ohnerachtet er von den Leuten auf der Straße entweder gar nicht, oder doch nicht deutlich, geſehen wird. Es kommt mehr Licht aus der Straße ins Zimmer, als aus dem Zimmer in die Straße. — — — Alle J i 3

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 501. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/511>, abgerufen am 19.04.2024.