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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779.

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und traf sie vollständig. Sie hatte viel Gutes,
viel Herzliches an sich. Sie sah' jeden starr an
und kam dem, mit welchem sie sprach, unge-
wöhnlich nahe. Sie grif ihn mit ihren großen
etwas verwilderten Augen. Es ließ diese Pro-
phetin gleich beim erstenmale so viel Zutrauen
gegen mich aus ihren Augen schießen, daß sich
der Prediger und alle, die sie kannten, darüber
wunderten. Sie blieb sich die ganze Zeit über
gleich, ohne tiefer in ihre Lindenkrankheit zu
fallen, die sie indessen nie ganz verließ. Sie
hatt' eine schleichende Lindenkrankheit, sagte
Gretchen, wie man dergleichen Fieber hat,
das auch zuweilen in Heftigkeit ausbricht,
und nicht immer schleicht. --

Gretchen, ein rein und unschuldiges Mäd-
chen, das aus Liebe zu Minen mit dem Depu-
tatus nicht essen wolte. Sie hatte Verstand;
allein ihr Verstand lag in ihrem Herzen, oder
wenigstens nicht weit davon. Alles, was Gret-
chen sagt' und that, sagt' und that sie von gan-
zem Herzen --

Ich habe mit Fleiß meine Leser und mich
von Minchens Leich' abgezogen; allein konnt'
ich sie lassen? Wenn meine Leser scheel über
diesen Abzug gesehen, dann! dann erst! könnt'
ich vom Glück sagen! --

Mine

und traf ſie vollſtaͤndig. Sie hatte viel Gutes,
viel Herzliches an ſich. Sie ſah’ jeden ſtarr an
und kam dem, mit welchem ſie ſprach, unge-
woͤhnlich nahe. Sie grif ihn mit ihren großen
etwas verwilderten Augen. Es ließ dieſe Pro-
phetin gleich beim erſtenmale ſo viel Zutrauen
gegen mich aus ihren Augen ſchießen, daß ſich
der Prediger und alle, die ſie kannten, daruͤber
wunderten. Sie blieb ſich die ganze Zeit uͤber
gleich, ohne tiefer in ihre Lindenkrankheit zu
fallen, die ſie indeſſen nie ganz verließ. Sie
hatt’ eine ſchleichende Lindenkrankheit, ſagte
Gretchen, wie man dergleichen Fieber hat,
das auch zuweilen in Heftigkeit ausbricht,
und nicht immer ſchleicht. —

Gretchen, ein rein und unſchuldiges Maͤd-
chen, das aus Liebe zu Minen mit dem Depu-
tatus nicht eſſen wolte. Sie hatte Verſtand;
allein ihr Verſtand lag in ihrem Herzen, oder
wenigſtens nicht weit davon. Alles, was Gret-
chen ſagt’ und that, ſagt’ und that ſie von gan-
zem Herzen —

Ich habe mit Fleiß meine Leſer und mich
von Minchens Leich’ abgezogen; allein konnt’
ich ſie laſſen? Wenn meine Leſer ſcheel uͤber
dieſen Abzug geſehen, dann! dann erſt! koͤnnt’
ich vom Gluͤck ſagen! —

Mine
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[546/0558] und traf ſie vollſtaͤndig. Sie hatte viel Gutes, viel Herzliches an ſich. Sie ſah’ jeden ſtarr an und kam dem, mit welchem ſie ſprach, unge- woͤhnlich nahe. Sie grif ihn mit ihren großen etwas verwilderten Augen. Es ließ dieſe Pro- phetin gleich beim erſtenmale ſo viel Zutrauen gegen mich aus ihren Augen ſchießen, daß ſich der Prediger und alle, die ſie kannten, daruͤber wunderten. Sie blieb ſich die ganze Zeit uͤber gleich, ohne tiefer in ihre Lindenkrankheit zu fallen, die ſie indeſſen nie ganz verließ. Sie hatt’ eine ſchleichende Lindenkrankheit, ſagte Gretchen, wie man dergleichen Fieber hat, das auch zuweilen in Heftigkeit ausbricht, und nicht immer ſchleicht. — Gretchen, ein rein und unſchuldiges Maͤd- chen, das aus Liebe zu Minen mit dem Depu- tatus nicht eſſen wolte. Sie hatte Verſtand; allein ihr Verſtand lag in ihrem Herzen, oder wenigſtens nicht weit davon. Alles, was Gret- chen ſagt’ und that, ſagt’ und that ſie von gan- zem Herzen — Ich habe mit Fleiß meine Leſer und mich von Minchens Leich’ abgezogen; allein konnt’ ich ſie laſſen? Wenn meine Leſer ſcheel uͤber dieſen Abzug geſehen, dann! dann erſt! koͤnnt’ ich vom Gluͤck ſagen! — Mine

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 546. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/558>, abgerufen am 18.04.2024.