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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779.

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siebenzigsten Jahr' ist man Kind, oder fängt
es an zu werden. Niemand sagt daher sein
Alter gern, wenn er in diese Jahre kommt,
auch wenn er, in keiner einzigen Rücksicht,
Nachtheile davon für sich absieht. Der Mensch
will durchaus und durchall nicht gern ein Kind
seyn. Alles, was um ihn lebt und schwebt,
kommt so schnell zur Reife; nur er allein ist
der Spätling. Er ist ohn End' und Ziel auf
Tertia, dann rückt er freylich schnell fort; allein
bald sind die Classen aus. Wer zwanzig Jahre
gelebt hat, ist hundert alt worden; das künf-
tige Jahrhundert
sagt man. Thor! wie viel
sind nicht schon gewesen, was brachte das neue,
Neues? recht Neues vom Gott deiner Seel'
und der andern Welt? -- --

Es muß doch bey den Menschen grö-
ßere Uebel geben, als der Tod, weil sich
viele den Tod wünschen, um diesem und
jenem Uebel zu entkommen. Die Men-
schen wünschen selbst ihren Lieblingen
den Tod, und freuen sich, daß sie durch
ihn oft einer kleinen Schmach und Schan-
de entkommen: "Gottlob, daß er, daß
"sie todt ist, und daß er und daß sie nicht
"dieses, nicht jenes erlebt haben!" Ist
wohl eine Frage, was Alexander lieber

ge-

ſiebenzigſten Jahr’ iſt man Kind, oder faͤngt
es an zu werden. Niemand ſagt daher ſein
Alter gern, wenn er in dieſe Jahre kommt,
auch wenn er, in keiner einzigen Ruͤckſicht,
Nachtheile davon fuͤr ſich abſieht. Der Menſch
will durchaus und durchall nicht gern ein Kind
ſeyn. Alles, was um ihn lebt und ſchwebt,
kommt ſo ſchnell zur Reife; nur er allein iſt
der Spaͤtling. Er iſt ohn End’ und Ziel auf
Tertia, dann ruͤckt er freylich ſchnell fort; allein
bald ſind die Claſſen aus. Wer zwanzig Jahre
gelebt hat, iſt hundert alt worden; das kuͤnf-
tige Jahrhundert
ſagt man. Thor! wie viel
ſind nicht ſchon geweſen, was brachte das neue,
Neues? recht Neues vom Gott deiner Seel’
und der andern Welt? — —

Es muß doch bey den Menſchen groͤ-
ßere Uebel geben, als der Tod, weil ſich
viele den Tod wuͤnſchen, um dieſem und
jenem Uebel zu entkommen. Die Men-
ſchen wuͤnſchen ſelbſt ihren Lieblingen
den Tod, und freuen ſich, daß ſie durch
ihn oft einer kleinen Schmach und Schan-
de entkommen: „Gottlob, daß er, daß
„ſie todt iſt, und daß er und daß ſie nicht
„dieſes, nicht jenes erlebt haben!” Iſt
wohl eine Frage, was Alexander lieber

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[548/0560] ſiebenzigſten Jahr’ iſt man Kind, oder faͤngt es an zu werden. Niemand ſagt daher ſein Alter gern, wenn er in dieſe Jahre kommt, auch wenn er, in keiner einzigen Ruͤckſicht, Nachtheile davon fuͤr ſich abſieht. Der Menſch will durchaus und durchall nicht gern ein Kind ſeyn. Alles, was um ihn lebt und ſchwebt, kommt ſo ſchnell zur Reife; nur er allein iſt der Spaͤtling. Er iſt ohn End’ und Ziel auf Tertia, dann ruͤckt er freylich ſchnell fort; allein bald ſind die Claſſen aus. Wer zwanzig Jahre gelebt hat, iſt hundert alt worden; das kuͤnf- tige Jahrhundert ſagt man. Thor! wie viel ſind nicht ſchon geweſen, was brachte das neue, Neues? recht Neues vom Gott deiner Seel’ und der andern Welt? — — Es muß doch bey den Menſchen groͤ- ßere Uebel geben, als der Tod, weil ſich viele den Tod wuͤnſchen, um dieſem und jenem Uebel zu entkommen. Die Men- ſchen wuͤnſchen ſelbſt ihren Lieblingen den Tod, und freuen ſich, daß ſie durch ihn oft einer kleinen Schmach und Schan- de entkommen: „Gottlob, daß er, daß „ſie todt iſt, und daß er und daß ſie nicht „dieſes, nicht jenes erlebt haben!” Iſt wohl eine Frage, was Alexander lieber ge-

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 548. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/560>, abgerufen am 16.04.2024.