Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Mutter war älter, das Leben hatte sich
mehr angeklammert, und der Tod muste stark
reißen, eh' er seinen Zweck erriß Der Mut-
ter Sarg stand schon längst bey dem Sarg
ihrer Tochter, noch eh die Mutter selbst drinn
war. Was das für ein Leichenzug war! Sie
wolten still begraben seyn; allein alles im
Städtchen, was gehen konnte, gieng den Sär-
gern nach. Es waren allen und jeden Wegwei-
ser zur ewigen Ruhe! Die Taglöhner verdun-
gen sich nur auf den halben Tag, um dieses
Begräbniß zu sehen. Der Pastor weinte. Er
war außer den Dreyen der vierte, der An-
nens
Fall wuste! Die Engel fielen und wur-
den Teufel; allein Anne blieb, was sie war,
im priesterlichen Auge. Der Pastor weinte:
denn er hatte kein Engelbild mehr in seiner Ge-
meine. Er wuste nicht, wie er die Engelgestalt
deutlich machen würde, da er Annen nicht
mehr sehen konnte -- ich werde sie bald sehen,
fieng er prophetisch an mit entzückten Muthe,
drückte sich den Hut in die Augen, und gieng
so, als ob er den Tod ausfordern wolte. Der
gute Pastor! Er wolt' ein Erbauungswort bey
dem Grabe dieser beyden Seligen verbreiten,
doch, das konnt' er nicht! Annens Gesicht, das
ihm noch zu lebhaft vor den Augen schwebte,

störte
Q q 2

Die Mutter war aͤlter, das Leben hatte ſich
mehr angeklammert, und der Tod muſte ſtark
reißen, eh’ er ſeinen Zweck erriß Der Mut-
ter Sarg ſtand ſchon laͤngſt bey dem Sarg
ihrer Tochter, noch eh die Mutter ſelbſt drinn
war. Was das fuͤr ein Leichenzug war! Sie
wolten ſtill begraben ſeyn; allein alles im
Staͤdtchen, was gehen konnte, gieng den Saͤr-
gern nach. Es waren allen und jeden Wegwei-
ſer zur ewigen Ruhe! Die Tagloͤhner verdun-
gen ſich nur auf den halben Tag, um dieſes
Begraͤbniß zu ſehen. Der Paſtor weinte. Er
war außer den Dreyen der vierte, der An-
nens
Fall wuſte! Die Engel fielen und wur-
den Teufel; allein Anne blieb, was ſie war,
im prieſterlichen Auge. Der Paſtor weinte:
denn er hatte kein Engelbild mehr in ſeiner Ge-
meine. Er wuſte nicht, wie er die Engelgeſtalt
deutlich machen wuͤrde, da er Annen nicht
mehr ſehen konnte — ich werde ſie bald ſehen,
fieng er prophetiſch an mit entzuͤckten Muthe,
druͤckte ſich den Hut in die Augen, und gieng
ſo, als ob er den Tod ausfordern wolte. Der
gute Paſtor! Er wolt’ ein Erbauungswort bey
dem Grabe dieſer beyden Seligen verbreiten,
doch, das konnt’ er nicht! Annens Geſicht, das
ihm noch zu lebhaft vor den Augen ſchwebte,

ſtoͤrte
Q q 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0623" n="611"/>
Die Mutter war a&#x0364;lter, das Leben hatte &#x017F;ich<lb/>
mehr angeklammert, und der Tod mu&#x017F;te &#x017F;tark<lb/>
reißen, eh&#x2019; er &#x017F;einen Zweck erriß Der Mut-<lb/>
ter Sarg &#x017F;tand &#x017F;chon la&#x0364;ng&#x017F;t bey dem Sarg<lb/>
ihrer Tochter, noch eh die Mutter &#x017F;elb&#x017F;t drinn<lb/>
war. Was das fu&#x0364;r ein Leichenzug war! Sie<lb/>
wolten &#x017F;till begraben &#x017F;eyn; allein alles im<lb/>
Sta&#x0364;dtchen, was gehen konnte, gieng den Sa&#x0364;r-<lb/>
gern nach. Es waren allen und jeden Wegwei-<lb/>
&#x017F;er zur ewigen Ruhe! Die Taglo&#x0364;hner verdun-<lb/>
gen &#x017F;ich nur auf den halben Tag, um die&#x017F;es<lb/>
Begra&#x0364;bniß zu &#x017F;ehen. Der Pa&#x017F;tor weinte. Er<lb/>
war außer den Dreyen der vierte, der <hi rendition="#fr">An-<lb/>
nens</hi> Fall wu&#x017F;te! Die Engel fielen und wur-<lb/>
den Teufel; allein <hi rendition="#fr">Anne</hi> blieb, was &#x017F;ie war,<lb/>
im prie&#x017F;terlichen Auge. Der Pa&#x017F;tor weinte:<lb/>
denn er hatte kein Engelbild mehr in &#x017F;einer Ge-<lb/>
meine. Er wu&#x017F;te nicht, wie er die Engelge&#x017F;talt<lb/>
deutlich machen wu&#x0364;rde, da er <hi rendition="#fr">Annen</hi> nicht<lb/>
mehr &#x017F;ehen konnte &#x2014; ich werde &#x017F;ie bald &#x017F;ehen,<lb/>
fieng er propheti&#x017F;ch an mit entzu&#x0364;ckten Muthe,<lb/>
dru&#x0364;ckte &#x017F;ich den Hut in die Augen, und gieng<lb/>
&#x017F;o, als ob er den Tod ausfordern wolte. Der<lb/>
gute Pa&#x017F;tor! Er wolt&#x2019; ein Erbauungswort bey<lb/>
dem Grabe die&#x017F;er beyden Seligen verbreiten,<lb/>
doch, das konnt&#x2019; er nicht! <hi rendition="#fr">Annens</hi> Ge&#x017F;icht, das<lb/>
ihm noch zu lebhaft vor den Augen &#x017F;chwebte,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Q q 2</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x017F;to&#x0364;rte</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[611/0623] Die Mutter war aͤlter, das Leben hatte ſich mehr angeklammert, und der Tod muſte ſtark reißen, eh’ er ſeinen Zweck erriß Der Mut- ter Sarg ſtand ſchon laͤngſt bey dem Sarg ihrer Tochter, noch eh die Mutter ſelbſt drinn war. Was das fuͤr ein Leichenzug war! Sie wolten ſtill begraben ſeyn; allein alles im Staͤdtchen, was gehen konnte, gieng den Saͤr- gern nach. Es waren allen und jeden Wegwei- ſer zur ewigen Ruhe! Die Tagloͤhner verdun- gen ſich nur auf den halben Tag, um dieſes Begraͤbniß zu ſehen. Der Paſtor weinte. Er war außer den Dreyen der vierte, der An- nens Fall wuſte! Die Engel fielen und wur- den Teufel; allein Anne blieb, was ſie war, im prieſterlichen Auge. Der Paſtor weinte: denn er hatte kein Engelbild mehr in ſeiner Ge- meine. Er wuſte nicht, wie er die Engelgeſtalt deutlich machen wuͤrde, da er Annen nicht mehr ſehen konnte — ich werde ſie bald ſehen, fieng er prophetiſch an mit entzuͤckten Muthe, druͤckte ſich den Hut in die Augen, und gieng ſo, als ob er den Tod ausfordern wolte. Der gute Paſtor! Er wolt’ ein Erbauungswort bey dem Grabe dieſer beyden Seligen verbreiten, doch, das konnt’ er nicht! Annens Geſicht, das ihm noch zu lebhaft vor den Augen ſchwebte, ſtoͤrte Q q 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/623
Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 611. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/623>, abgerufen am 28.03.2024.