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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779.

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Zwar eine Aehrenleserin, und doch reich!
Wie ich noch arbeiten konnte, band ich Gar-
ben, und beschämt oft junge Mädchen in
der Schnelligkeit. Man sagte von mir, ich
grif Glück, wenn ich unter der blinkenden
Sichel Getreyde grif. Im Alter les ich' Aeh-
ren, und frene mich, daß ichs kann. Lie-
ber würd' ichs sehen, wenn ich mich nicht bü-
cken dörfte. Doch bückt man sich nicht auch,
wenn man stirbt? und mir ist immer so wohl,
wenn ich eine Aehre find, als fänd ich mei-
nen seligen Tod! -- Auch der wird kommen,
wenn Zeit und Stunde seyn wird, so wie der
liebreiche Gott mir meine Schürze voll Aeh-
ren beschert, wenn es Zeit ist. -- Da sa-
gen mir oft Leute, die jung sind und Aeh-
ren lesen kommen: Mutter, dort steht noch
Korn, was leßt ihr, schneidet mit einem
Messer Aehren, so habt ihr in einer halben
Stunde mehr, als ihr tragen könnt! Seht!
wie wir es machen! Schämt euch, Kinder,
antwort' ich, daß ihr euch mit Aehrenlesen
abgebt, und schämt euch doppelt, daß ihr
Gott und Menschen mit dem Messer betrügt.
Der liebe Gott, der unser Haar zählt, zählt
auch jedes Erdenhaar, jeden Halm! --

Glaubt

Zwar eine Aehrenleſerin, und doch reich!
Wie ich noch arbeiten konnte, band ich Gar-
ben, und beſchaͤmt oft junge Maͤdchen in
der Schnelligkeit. Man ſagte von mir, ich
grif Gluͤck, wenn ich unter der blinkenden
Sichel Getreyde grif. Im Alter leſ ich’ Aeh-
ren, und frene mich, daß ichs kann. Lie-
ber wuͤrd’ ichs ſehen, wenn ich mich nicht buͤ-
cken doͤrfte. Doch buͤckt man ſich nicht auch,
wenn man ſtirbt? und mir iſt immer ſo wohl,
wenn ich eine Aehre find, als faͤnd ich mei-
nen ſeligen Tod! — Auch der wird kommen,
wenn Zeit und Stunde ſeyn wird, ſo wie der
liebreiche Gott mir meine Schuͤrze voll Aeh-
ren beſchert, wenn es Zeit iſt. — Da ſa-
gen mir oft Leute, die jung ſind und Aeh-
ren leſen kommen: Mutter, dort ſteht noch
Korn, was leßt ihr, ſchneidet mit einem
Meſſer Aehren, ſo habt ihr in einer halben
Stunde mehr, als ihr tragen koͤnnt! Seht!
wie wir es machen! Schaͤmt euch, Kinder,
antwort’ ich, daß ihr euch mit Aehrenleſen
abgebt, und ſchaͤmt euch doppelt, daß ihr
Gott und Menſchen mit dem Meſſer betruͤgt.
Der liebe Gott, der unſer Haar zaͤhlt, zaͤhlt
auch jedes Erdenhaar, jeden Halm! —

Glaubt
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[616/0628] Zwar eine Aehrenleſerin, und doch reich! Wie ich noch arbeiten konnte, band ich Gar- ben, und beſchaͤmt oft junge Maͤdchen in der Schnelligkeit. Man ſagte von mir, ich grif Gluͤck, wenn ich unter der blinkenden Sichel Getreyde grif. Im Alter leſ ich’ Aeh- ren, und frene mich, daß ichs kann. Lie- ber wuͤrd’ ichs ſehen, wenn ich mich nicht buͤ- cken doͤrfte. Doch buͤckt man ſich nicht auch, wenn man ſtirbt? und mir iſt immer ſo wohl, wenn ich eine Aehre find, als faͤnd ich mei- nen ſeligen Tod! — Auch der wird kommen, wenn Zeit und Stunde ſeyn wird, ſo wie der liebreiche Gott mir meine Schuͤrze voll Aeh- ren beſchert, wenn es Zeit iſt. — Da ſa- gen mir oft Leute, die jung ſind und Aeh- ren leſen kommen: Mutter, dort ſteht noch Korn, was leßt ihr, ſchneidet mit einem Meſſer Aehren, ſo habt ihr in einer halben Stunde mehr, als ihr tragen koͤnnt! Seht! wie wir es machen! Schaͤmt euch, Kinder, antwort’ ich, daß ihr euch mit Aehrenleſen abgebt, und ſchaͤmt euch doppelt, daß ihr Gott und Menſchen mit dem Meſſer betruͤgt. Der liebe Gott, der unſer Haar zaͤhlt, zaͤhlt auch jedes Erdenhaar, jeden Halm! — Glaubt

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 616. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/628>, abgerufen am 24.04.2024.