Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite

Frau v. W. war auch einigermaaßen
fürs Aber, und es erinnerte sich der Herr
v. G. zu rechter Zeit, daß mein Vater be-
hauptet hätte, wir Menschen sprächen im-
mer von Neigung, auch selbst da, wo Urtel
des Verstandes entschieden hätte. Es schei-
net, daß der Mensch seiner Vernunft nicht
recht trauet. Bey einem Hauptargument
hat er noch verschiedene ad hominem, setzte
Herr v. G. hinzu, ohne besonders zu bemer-
ken, ob es sein Eigenthum, oder von mei-
nem Vater herkäme. Es schien, als ob er
vieles von meinem Vater jure antichretico
besäße.

Herr v. G. brach sich sehr den Kopf über
die Extreme, von denen ihm mein Vater be-
sondere Dinge gesagt hätte. Zwey Extre-
me sind zwey Enden, wiederholte der Herr
v. G., als wenn er zu sich selbst spräche.
Zwey Enden, die man den Augenblick ver-
binden kann. So war der Teufel Gottes-
freund. Wollust und Nothdurft sind Nach-
barskinder. Schwindsucht und Wassersucht,
Schlaflosigkeit und Schlafsucht, Licht und
Schatten, Leben und Sterben, himmlische
erhabenste Weisheit und Einfalt. -- Die
größte Wuth ist, wenn ein Mensch den an-

dern
E 4

Frau v. W. war auch einigermaaßen
fuͤrs Aber, und es erinnerte ſich der Herr
v. G. zu rechter Zeit, daß mein Vater be-
hauptet haͤtte, wir Menſchen ſpraͤchen im-
mer von Neigung, auch ſelbſt da, wo Urtel
des Verſtandes entſchieden haͤtte. Es ſchei-
net, daß der Menſch ſeiner Vernunft nicht
recht trauet. Bey einem Hauptargument
hat er noch verſchiedene ad hominem, ſetzte
Herr v. G. hinzu, ohne beſonders zu bemer-
ken, ob es ſein Eigenthum, oder von mei-
nem Vater herkaͤme. Es ſchien, als ob er
vieles von meinem Vater jure antichretico
beſaͤße.

Herr v. G. brach ſich ſehr den Kopf uͤber
die Extreme, von denen ihm mein Vater be-
ſondere Dinge geſagt haͤtte. Zwey Extre-
me ſind zwey Enden, wiederholte der Herr
v. G., als wenn er zu ſich ſelbſt ſpraͤche.
Zwey Enden, die man den Augenblick ver-
binden kann. So war der Teufel Gottes-
freund. Wolluſt und Nothdurft ſind Nach-
barskinder. Schwindſucht und Waſſerſucht,
Schlafloſigkeit und Schlafſucht, Licht und
Schatten, Leben und Sterben, himmliſche
erhabenſte Weisheit und Einfalt. — Die
groͤßte Wuth iſt, wenn ein Menſch den an-

dern
E 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0077" n="71"/>
        <p>Frau v. W. war auch einigermaaßen<lb/>
fu&#x0364;rs Aber, und es erinnerte &#x017F;ich der Herr<lb/>
v. G. zu rechter Zeit, daß mein Vater be-<lb/>
hauptet ha&#x0364;tte, wir Men&#x017F;chen &#x017F;pra&#x0364;chen im-<lb/>
mer von Neigung, auch &#x017F;elb&#x017F;t da, wo Urtel<lb/>
des Ver&#x017F;tandes ent&#x017F;chieden ha&#x0364;tte. Es &#x017F;chei-<lb/>
net, daß der Men&#x017F;ch &#x017F;einer Vernunft nicht<lb/>
recht trauet. Bey einem Hauptargument<lb/>
hat er noch ver&#x017F;chiedene <hi rendition="#aq">ad hominem,</hi> &#x017F;etzte<lb/>
Herr v. G. hinzu, ohne be&#x017F;onders zu bemer-<lb/>
ken, ob es &#x017F;ein Eigenthum, oder von mei-<lb/>
nem Vater herka&#x0364;me. Es &#x017F;chien, als ob er<lb/>
vieles von meinem Vater <hi rendition="#aq">jure antichretico</hi><lb/>
be&#x017F;a&#x0364;ße.</p><lb/>
        <p>Herr v. G. brach &#x017F;ich &#x017F;ehr den Kopf u&#x0364;ber<lb/>
die Extreme, von denen ihm mein Vater be-<lb/>
&#x017F;ondere Dinge ge&#x017F;agt ha&#x0364;tte. Zwey Extre-<lb/>
me &#x017F;ind zwey Enden, wiederholte der Herr<lb/>
v. G., als wenn er zu &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;pra&#x0364;che.<lb/>
Zwey Enden, die man den Augenblick ver-<lb/>
binden kann. So war der Teufel Gottes-<lb/>
freund. Wollu&#x017F;t und Nothdurft &#x017F;ind Nach-<lb/>
barskinder. Schwind&#x017F;ucht und Wa&#x017F;&#x017F;er&#x017F;ucht,<lb/>
Schlaflo&#x017F;igkeit und Schlaf&#x017F;ucht, Licht und<lb/>
Schatten, Leben und Sterben, himmli&#x017F;che<lb/>
erhaben&#x017F;te Weisheit und Einfalt. &#x2014; Die<lb/>
gro&#x0364;ßte Wuth i&#x017F;t, wenn ein Men&#x017F;ch den an-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">E 4</fw><fw place="bottom" type="catch">dern</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[71/0077] Frau v. W. war auch einigermaaßen fuͤrs Aber, und es erinnerte ſich der Herr v. G. zu rechter Zeit, daß mein Vater be- hauptet haͤtte, wir Menſchen ſpraͤchen im- mer von Neigung, auch ſelbſt da, wo Urtel des Verſtandes entſchieden haͤtte. Es ſchei- net, daß der Menſch ſeiner Vernunft nicht recht trauet. Bey einem Hauptargument hat er noch verſchiedene ad hominem, ſetzte Herr v. G. hinzu, ohne beſonders zu bemer- ken, ob es ſein Eigenthum, oder von mei- nem Vater herkaͤme. Es ſchien, als ob er vieles von meinem Vater jure antichretico beſaͤße. Herr v. G. brach ſich ſehr den Kopf uͤber die Extreme, von denen ihm mein Vater be- ſondere Dinge geſagt haͤtte. Zwey Extre- me ſind zwey Enden, wiederholte der Herr v. G., als wenn er zu ſich ſelbſt ſpraͤche. Zwey Enden, die man den Augenblick ver- binden kann. So war der Teufel Gottes- freund. Wolluſt und Nothdurft ſind Nach- barskinder. Schwindſucht und Waſſerſucht, Schlafloſigkeit und Schlafſucht, Licht und Schatten, Leben und Sterben, himmliſche erhabenſte Weisheit und Einfalt. — Die groͤßte Wuth iſt, wenn ein Menſch den an- dern E 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/77
Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/77>, abgerufen am 29.03.2024.