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Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 2. Leipzig, 1780.

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Fünfter Abschnitt.
Niagara in der Provinz Canada in America weiß man in der itzt bekannten Welt
keinen, der mit diesem zu vergleichen wäre.

Wie die Flüsse und Gebürge in der neuen Welt überhaupt von einer Größe sind,
die vor ihrer Entdeckung nicht gesehen ward, so ist auch der Niagarasturz der größte,
den bis jetzt die erweiterte Erdbeschreibung kennt. An dem Fall ist der Fluß eine hal-
be (englische) Meile breit; der quer durch ihn gehende Felsen stellt einen halben Mond
vor. Ehe man an den Fall kommt, liegt eine Insel eine halbe (englische) Meile lang,
die kurz vor dem Fall aufhört. Sie theilt den Fluß in zween Theile. Anfangs fließt
er langsam; aber so wie er sich dem Falle nähert, geschwinder und mit solcher Heftig-
keit, daß er das Wasser in die Höhe wirft und wie lauter Schaum aussieht. Der
senkrechte Fall ist hundert und funfzig Fuß hoch, und setzt jeden, der ihn erblickt, in
Erstaunen. Man sieht eine ungeheure Menge Wasser mit Gewalt auf die untersten
Felsen herabstürzen, und sich wieder in weißen Schaum verwandelt in die Höhe he-
ben. Man hört das Getöse oft auf funfzehn (englische) Meilen weit; man sieht die
davon aufsteigenden Dünste, in einer großen Entfernung, wie eine Wolke oder Säule
von Dampf; und nachdem sich die Sonnenstralen brechen, stellt sich dem Auge ein
Regenbogen dar. Vielen Thieren und Vögeln, die über den Strom hinüber wol-
len, kostet dieser Fall das Leben, und man findet sie unten in Stücken wieder; eine
Menge von umherschwebenden Adlern lauert auf die Beute der Verunglückten.

[Abbildung]
Vermischte Anmerkungen über das Wasser.

Man wird nun überzeugt seyn, welche Mannichfaltigkeit von Wirkungen in
den bisher beschriebenen Hauptcharakteren enthalten ist, die uns die Natur von dem
Wasser zeigt. In der That bleibt das Wasser einer der herrlichsten Gegenstände in
der Schöpfung und die Seele der Landschaft. Es ist keine Scene so klein, wohin es

sich

Fuͤnfter Abſchnitt.
Niagara in der Provinz Canada in America weiß man in der itzt bekannten Welt
keinen, der mit dieſem zu vergleichen waͤre.

Wie die Fluͤſſe und Gebuͤrge in der neuen Welt uͤberhaupt von einer Groͤße ſind,
die vor ihrer Entdeckung nicht geſehen ward, ſo iſt auch der Niagaraſturz der groͤßte,
den bis jetzt die erweiterte Erdbeſchreibung kennt. An dem Fall iſt der Fluß eine hal-
be (engliſche) Meile breit; der quer durch ihn gehende Felſen ſtellt einen halben Mond
vor. Ehe man an den Fall kommt, liegt eine Inſel eine halbe (engliſche) Meile lang,
die kurz vor dem Fall aufhoͤrt. Sie theilt den Fluß in zween Theile. Anfangs fließt
er langſam; aber ſo wie er ſich dem Falle naͤhert, geſchwinder und mit ſolcher Heftig-
keit, daß er das Waſſer in die Hoͤhe wirft und wie lauter Schaum ausſieht. Der
ſenkrechte Fall iſt hundert und funfzig Fuß hoch, und ſetzt jeden, der ihn erblickt, in
Erſtaunen. Man ſieht eine ungeheure Menge Waſſer mit Gewalt auf die unterſten
Felſen herabſtuͤrzen, und ſich wieder in weißen Schaum verwandelt in die Hoͤhe he-
ben. Man hoͤrt das Getoͤſe oft auf funfzehn (engliſche) Meilen weit; man ſieht die
davon aufſteigenden Duͤnſte, in einer großen Entfernung, wie eine Wolke oder Saͤule
von Dampf; und nachdem ſich die Sonnenſtralen brechen, ſtellt ſich dem Auge ein
Regenbogen dar. Vielen Thieren und Voͤgeln, die uͤber den Strom hinuͤber wol-
len, koſtet dieſer Fall das Leben, und man findet ſie unten in Stuͤcken wieder; eine
Menge von umherſchwebenden Adlern lauert auf die Beute der Verungluͤckten.

[Abbildung]
Vermiſchte Anmerkungen uͤber das Waſſer.

Man wird nun uͤberzeugt ſeyn, welche Mannichfaltigkeit von Wirkungen in
den bisher beſchriebenen Hauptcharakteren enthalten iſt, die uns die Natur von dem
Waſſer zeigt. In der That bleibt das Waſſer einer der herrlichſten Gegenſtaͤnde in
der Schoͤpfung und die Seele der Landſchaft. Es iſt keine Scene ſo klein, wohin es

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[124/0128] Fuͤnfter Abſchnitt. Niagara in der Provinz Canada in America weiß man in der itzt bekannten Welt keinen, der mit dieſem zu vergleichen waͤre. Wie die Fluͤſſe und Gebuͤrge in der neuen Welt uͤberhaupt von einer Groͤße ſind, die vor ihrer Entdeckung nicht geſehen ward, ſo iſt auch der Niagaraſturz der groͤßte, den bis jetzt die erweiterte Erdbeſchreibung kennt. An dem Fall iſt der Fluß eine hal- be (engliſche) Meile breit; der quer durch ihn gehende Felſen ſtellt einen halben Mond vor. Ehe man an den Fall kommt, liegt eine Inſel eine halbe (engliſche) Meile lang, die kurz vor dem Fall aufhoͤrt. Sie theilt den Fluß in zween Theile. Anfangs fließt er langſam; aber ſo wie er ſich dem Falle naͤhert, geſchwinder und mit ſolcher Heftig- keit, daß er das Waſſer in die Hoͤhe wirft und wie lauter Schaum ausſieht. Der ſenkrechte Fall iſt hundert und funfzig Fuß hoch, und ſetzt jeden, der ihn erblickt, in Erſtaunen. Man ſieht eine ungeheure Menge Waſſer mit Gewalt auf die unterſten Felſen herabſtuͤrzen, und ſich wieder in weißen Schaum verwandelt in die Hoͤhe he- ben. Man hoͤrt das Getoͤſe oft auf funfzehn (engliſche) Meilen weit; man ſieht die davon aufſteigenden Duͤnſte, in einer großen Entfernung, wie eine Wolke oder Saͤule von Dampf; und nachdem ſich die Sonnenſtralen brechen, ſtellt ſich dem Auge ein Regenbogen dar. Vielen Thieren und Voͤgeln, die uͤber den Strom hinuͤber wol- len, koſtet dieſer Fall das Leben, und man findet ſie unten in Stuͤcken wieder; eine Menge von umherſchwebenden Adlern lauert auf die Beute der Verungluͤckten. [Abbildung] Vermiſchte Anmerkungen uͤber das Waſſer. Man wird nun uͤberzeugt ſeyn, welche Mannichfaltigkeit von Wirkungen in den bisher beſchriebenen Hauptcharakteren enthalten iſt, die uns die Natur von dem Waſſer zeigt. In der That bleibt das Waſſer einer der herrlichſten Gegenſtaͤnde in der Schoͤpfung und die Seele der Landſchaft. Es iſt keine Scene ſo klein, wohin es ſich

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Zitationshilfe: Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 2. Leipzig, 1780, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hirschfeld_gartenkunst2_1780/128>, abgerufen am 28.03.2024.