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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859.

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Zwölftes Kapitel.

Allgemeine Bemerkungen über die Provinzen von Venezuela. --
Ihre verschiedenen Interessen. -- Die Stadt Caracas. -- Ihr Klima.

Die Wichtigkeit einer Hauptstadt hängt nicht allein von
ihrer Volkszahl, von ihrem Reichtum und ihrer Lage ab; um
dieselbe einigermaßen richtig zu beurteilen, muß man den
Umfang des Gebietes, dessen Mittelpunkt sie ist, die Menge
einheimischer Erzeugnisse, mit denen sie Handel treibt, die
Verhältnisse, in denen sie zu den ihrem politischen Einfluß
unterworfenen Provinzen steht, in Rechnung ziehen. Diese
verschiedenen Umstände modifizieren sich durch die mehr oder
weniger gelockerten Bande zwischen den Kolonieen und dem
Mutterland; aber die Macht der Gewohnheit ist so groß und
die Handelsinteressen sind so zäh, daß sich voraussagen läßt,
der Einfluß der Hauptstädte auf das Land umher, auf die
unter den Namen Reinos, Capitanias generales, Presidencias,
Goviernos
verschmolzenen Gruppen von Provinzen werden
auch die Katastrophe der Trennung der Provinzen vom Mutter-
lande überdauern. Man wird nur da Stücke losreißen und
anders verbinden, wo man, mit Mißachtung natürlicher
Grenzen, willkürlich Gebiete verbunden hatte, die nur schwer
miteinander verkehren. Ueberall, wo die Kultur nicht schon
vor der Eroberung in einem gewissen Grade bestand (wie in
Mexiko, Guatemala, Quito und Peru), verbreitete sie sich von
den Küsten ins Binnenland, bald einem großen Flußthale,
bald einer Gebirgskette mit gemäßigtem Klima nach. Sie
setzte sich zu gleicher Zeit in verschiedenen Mittelpunkten fest,
von denen sie sofort gleichsam ausstrahlte. Die Vereinigung
zu Provinzen oder Königreichen erfolgte, sobald sich civilisierte,
oder doch einem festen, geregelten Regiment unterworfene
Gebiete unmittelbar berührten. Wüst liegende oder von wil-
den Menschen bewohnte Landstriche umgeben jetzt die von der

Zwölftes Kapitel.

Allgemeine Bemerkungen über die Provinzen von Venezuela. —
Ihre verſchiedenen Intereſſen. — Die Stadt Caracas. — Ihr Klima.

Die Wichtigkeit einer Hauptſtadt hängt nicht allein von
ihrer Volkszahl, von ihrem Reichtum und ihrer Lage ab; um
dieſelbe einigermaßen richtig zu beurteilen, muß man den
Umfang des Gebietes, deſſen Mittelpunkt ſie iſt, die Menge
einheimiſcher Erzeugniſſe, mit denen ſie Handel treibt, die
Verhältniſſe, in denen ſie zu den ihrem politiſchen Einfluß
unterworfenen Provinzen ſteht, in Rechnung ziehen. Dieſe
verſchiedenen Umſtände modifizieren ſich durch die mehr oder
weniger gelockerten Bande zwiſchen den Kolonieen und dem
Mutterland; aber die Macht der Gewohnheit iſt ſo groß und
die Handelsintereſſen ſind ſo zäh, daß ſich vorausſagen läßt,
der Einfluß der Hauptſtädte auf das Land umher, auf die
unter den Namen Reinos, Capitanias generales, Presidencias,
Goviernos
verſchmolzenen Gruppen von Provinzen werden
auch die Kataſtrophe der Trennung der Provinzen vom Mutter-
lande überdauern. Man wird nur da Stücke losreißen und
anders verbinden, wo man, mit Mißachtung natürlicher
Grenzen, willkürlich Gebiete verbunden hatte, die nur ſchwer
miteinander verkehren. Ueberall, wo die Kultur nicht ſchon
vor der Eroberung in einem gewiſſen Grade beſtand (wie in
Mexiko, Guatemala, Quito und Peru), verbreitete ſie ſich von
den Küſten ins Binnenland, bald einem großen Flußthale,
bald einer Gebirgskette mit gemäßigtem Klima nach. Sie
ſetzte ſich zu gleicher Zeit in verſchiedenen Mittelpunkten feſt,
von denen ſie ſofort gleichſam ausſtrahlte. Die Vereinigung
zu Provinzen oder Königreichen erfolgte, ſobald ſich civiliſierte,
oder doch einem feſten, geregelten Regiment unterworfene
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[[94]/0102] Zwölftes Kapitel. Allgemeine Bemerkungen über die Provinzen von Venezuela. — Ihre verſchiedenen Intereſſen. — Die Stadt Caracas. — Ihr Klima. Die Wichtigkeit einer Hauptſtadt hängt nicht allein von ihrer Volkszahl, von ihrem Reichtum und ihrer Lage ab; um dieſelbe einigermaßen richtig zu beurteilen, muß man den Umfang des Gebietes, deſſen Mittelpunkt ſie iſt, die Menge einheimiſcher Erzeugniſſe, mit denen ſie Handel treibt, die Verhältniſſe, in denen ſie zu den ihrem politiſchen Einfluß unterworfenen Provinzen ſteht, in Rechnung ziehen. Dieſe verſchiedenen Umſtände modifizieren ſich durch die mehr oder weniger gelockerten Bande zwiſchen den Kolonieen und dem Mutterland; aber die Macht der Gewohnheit iſt ſo groß und die Handelsintereſſen ſind ſo zäh, daß ſich vorausſagen läßt, der Einfluß der Hauptſtädte auf das Land umher, auf die unter den Namen Reinos, Capitanias generales, Presidencias, Goviernos verſchmolzenen Gruppen von Provinzen werden auch die Kataſtrophe der Trennung der Provinzen vom Mutter- lande überdauern. Man wird nur da Stücke losreißen und anders verbinden, wo man, mit Mißachtung natürlicher Grenzen, willkürlich Gebiete verbunden hatte, die nur ſchwer miteinander verkehren. Ueberall, wo die Kultur nicht ſchon vor der Eroberung in einem gewiſſen Grade beſtand (wie in Mexiko, Guatemala, Quito und Peru), verbreitete ſie ſich von den Küſten ins Binnenland, bald einem großen Flußthale, bald einer Gebirgskette mit gemäßigtem Klima nach. Sie ſetzte ſich zu gleicher Zeit in verſchiedenen Mittelpunkten feſt, von denen ſie ſofort gleichſam ausſtrahlte. Die Vereinigung zu Provinzen oder Königreichen erfolgte, ſobald ſich civiliſierte, oder doch einem feſten, geregelten Regiment unterworfene Gebiete unmittelbar berührten. Wüſt liegende oder von wil- den Menſchen bewohnte Landſtriche umgeben jetzt die von der

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. [94]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/102>, abgerufen am 28.03.2024.