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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859.

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Neuntes Kapitel.

Körperbeschaffenheit und Sitten der Chaymas. -- Ihre Sprachen.

Der Beschreibung unserer Reise nach den Missionen am
Caripe wollte ich keine allgemeinen Betrachtungen über die
Stämme der Eingeborenen, welche Neuandalusien bewohnen,
über ihre Sitten, ihre Sprache und ihren gemeinsamen Ur-
sprung einflechten. Jetzt, da wir wieder am Orte sind, von
dem wir ausgegangen, möchte ich alles dies, das für die
Geschichte des Menschengeschlechtes von so großer Bedeutung
ist, unter einem Gesichtspunkt zusammenfassen. Je weiter
wir von jetzt an ins Binnenland eindringen, desto mehr wird
uns das Interesse für diese Gegenstände, den Erscheinungen
der physischen Natur gegenüber, in Anspruch nehmen. Der
nordöstliche Teil des tropischen Amerikas, Terra Firma und
die Ufer des Orinoko, gleichen hinsichtlich der Mannigfaltig-
keit der Völkerschaften, die sie bewohnen, den Thälern des
Kaukasus, den Bergen des Hindu-khu, dem nördlichen Ende
Asiens, jenseits der Tungusen und Tataren, die an der Mün-
dung des Lena hausen. Die Barbarei, die in diesen ver-
schiedenen Landstrichen herrscht, ist vielleicht nicht sowohl der
Ausdruck ursprünglicher völliger Kulturlosigkeit, als vielmehr
die Folge langer Versunkenheit. Die meisten der Horden,
die wir Wilde nennen, stammen wahrscheinlich von Völkern,
die einst auf bedeutend höherer Kulturstufe standen, und wie
soll man ein Stehenbleiben im Kindesalter der Menschheit
(wenn ein solches überhaupt vorkommt) vom Zustand sittlichen
Verfalles unterscheiden, in dem Vereinzelung, die Not des
Lebens, gezwungene Wanderungen, oder ein grausames Klima
jede Spur von Kultur ausgetilgt haben? Wenn alles, was
sich auf die ursprünglichen Zustände des Menschen und auf
die älteste Bevölkerung eines Festlandes bezieht, an und für

Neuntes Kapitel.

Körperbeſchaffenheit und Sitten der Chaymas. — Ihre Sprachen.

Der Beſchreibung unſerer Reiſe nach den Miſſionen am
Caripe wollte ich keine allgemeinen Betrachtungen über die
Stämme der Eingeborenen, welche Neuandaluſien bewohnen,
über ihre Sitten, ihre Sprache und ihren gemeinſamen Ur-
ſprung einflechten. Jetzt, da wir wieder am Orte ſind, von
dem wir ausgegangen, möchte ich alles dies, das für die
Geſchichte des Menſchengeſchlechtes von ſo großer Bedeutung
iſt, unter einem Geſichtspunkt zuſammenfaſſen. Je weiter
wir von jetzt an ins Binnenland eindringen, deſto mehr wird
uns das Intereſſe für dieſe Gegenſtände, den Erſcheinungen
der phyſiſchen Natur gegenüber, in Anſpruch nehmen. Der
nordöſtliche Teil des tropiſchen Amerikas, Terra Firma und
die Ufer des Orinoko, gleichen hinſichtlich der Mannigfaltig-
keit der Völkerſchaften, die ſie bewohnen, den Thälern des
Kaukaſus, den Bergen des Hindu-khu, dem nördlichen Ende
Aſiens, jenſeits der Tunguſen und Tataren, die an der Mün-
dung des Lena hauſen. Die Barbarei, die in dieſen ver-
ſchiedenen Landſtrichen herrſcht, iſt vielleicht nicht ſowohl der
Ausdruck urſprünglicher völliger Kulturloſigkeit, als vielmehr
die Folge langer Verſunkenheit. Die meiſten der Horden,
die wir Wilde nennen, ſtammen wahrſcheinlich von Völkern,
die einſt auf bedeutend höherer Kulturſtufe ſtanden, und wie
ſoll man ein Stehenbleiben im Kindesalter der Menſchheit
(wenn ein ſolches überhaupt vorkommt) vom Zuſtand ſittlichen
Verfalles unterſcheiden, in dem Vereinzelung, die Not des
Lebens, gezwungene Wanderungen, oder ein grauſames Klima
jede Spur von Kultur ausgetilgt haben? Wenn alles, was
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[[3]/0011] Neuntes Kapitel. Körperbeſchaffenheit und Sitten der Chaymas. — Ihre Sprachen. Der Beſchreibung unſerer Reiſe nach den Miſſionen am Caripe wollte ich keine allgemeinen Betrachtungen über die Stämme der Eingeborenen, welche Neuandaluſien bewohnen, über ihre Sitten, ihre Sprache und ihren gemeinſamen Ur- ſprung einflechten. Jetzt, da wir wieder am Orte ſind, von dem wir ausgegangen, möchte ich alles dies, das für die Geſchichte des Menſchengeſchlechtes von ſo großer Bedeutung iſt, unter einem Geſichtspunkt zuſammenfaſſen. Je weiter wir von jetzt an ins Binnenland eindringen, deſto mehr wird uns das Intereſſe für dieſe Gegenſtände, den Erſcheinungen der phyſiſchen Natur gegenüber, in Anſpruch nehmen. Der nordöſtliche Teil des tropiſchen Amerikas, Terra Firma und die Ufer des Orinoko, gleichen hinſichtlich der Mannigfaltig- keit der Völkerſchaften, die ſie bewohnen, den Thälern des Kaukaſus, den Bergen des Hindu-khu, dem nördlichen Ende Aſiens, jenſeits der Tunguſen und Tataren, die an der Mün- dung des Lena hauſen. Die Barbarei, die in dieſen ver- ſchiedenen Landſtrichen herrſcht, iſt vielleicht nicht ſowohl der Ausdruck urſprünglicher völliger Kulturloſigkeit, als vielmehr die Folge langer Verſunkenheit. Die meiſten der Horden, die wir Wilde nennen, ſtammen wahrſcheinlich von Völkern, die einſt auf bedeutend höherer Kulturſtufe ſtanden, und wie ſoll man ein Stehenbleiben im Kindesalter der Menſchheit (wenn ein ſolches überhaupt vorkommt) vom Zuſtand ſittlichen Verfalles unterſcheiden, in dem Vereinzelung, die Not des Lebens, gezwungene Wanderungen, oder ein grauſames Klima jede Spur von Kultur ausgetilgt haben? Wenn alles, was ſich auf die urſprünglichen Zuſtände des Menſchen und auf die älteſte Bevölkerung eines Feſtlandes bezieht, an und für

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. [3]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/11>, abgerufen am 29.03.2024.