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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859.

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sich der Geschichte angehörte, so würden wir uns auf die
indischen Sagen berufen, auf die Ansicht, die in den Gesetzen
Manus und im Ramayana so oft ausgesprochen wird, nach
der die Wilden aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgestoßene,
in die Wälder getriebene Stämme sind. Das Wort Barbar,
das wir von Griechen und Römern angenommen, ist vielleicht
nur der Name einer solchen versunkenen Horde.

Zu Anfang der Eroberung Amerikas bestanden große
gesellschaftliche Vereine unter den Eingeborenen nur auf dem
Rücken der Kordilleren und auf den Asien gegenüber liegenden
Küsten. Auf den mit Wald bedeckten, von Flüssen durch-
schnittenen Ebenen, auf den endlosen Savannen, die sich oft-
wärts ausbreiten und den Horizont begrenzen, traf man nur
umherziehende Völkerschaften, getrennt durch Verschiedenheit
der Sprache und der Sitten, zerstreut gleich den Trümmern
eines Schiffbruchs. Wir wollen versuchen, ob uns in Er-
mangelung aller anderen Denkmale die Verwandtschaft der
Sprachen und die Beobachtung der Körperbildung dazu dienen
können, die verschiedenen Stämme zu gruppieren, die Spuren
ihrer weiten Wanderungen zu verfolgen und ein paar jener
Familienzüge aufzufinden, durch die sich die ursprüngliche
Einheit unseres Geschlechtes verrät.

Die Eingeborenen oder Ureinwohner bilden in den Län-
dern, deren Gebirge wir vor kurzem durchwandert, in den
beiden Provinzen Cumana und Nueva Barcelona, beinahe
noch die Hälfte der schwachen Bevölkerung. Ihre Kopfzahl
läßt sich auf 60000 schätzen, wovon 24000 auf Neuanda-
lusien kommen. Diese Zahl ist bedeutend gegenüber der
Stärke der Jägervölker in Nordamerika; sie erscheint klein,
wenn man die Teile von Neuspanien dagegen hält, wo seit
mehr als acht Jahrhunderten der Ackerbau besteht, z. B. die
Intendanz Oaxaca, in der die Mixteca und Tzapoteca des
alten mexikanischen Reiches liegen. Diese Intendanz ist um
ein Dritteil kleiner als die zwei Provinzen Cumana und
Barcelona zusammen, zählt aber über 400000 Einwohner von
der reinen kupferfarbigen Rasse. Die Indianer in Cumana
leben nicht alle in den Missionsdörfern; man findet sie zer-
streut in der Umgegend der Städte, auf den Küsten, wohin
sie des Fischfangs wegen ziehen, selbst auf den kleinen Höfen
in den Llanos oder Savannen. In den Missionen der ara-
gonesischen Kapuziner, die wir besucht, leben allein 15000
Indianer, die fast sämtlich dem Chaymasstamm angehören.

ſich der Geſchichte angehörte, ſo würden wir uns auf die
indiſchen Sagen berufen, auf die Anſicht, die in den Geſetzen
Manus und im Ramayana ſo oft ausgeſprochen wird, nach
der die Wilden aus der bürgerlichen Geſellſchaft ausgeſtoßene,
in die Wälder getriebene Stämme ſind. Das Wort Barbar,
das wir von Griechen und Römern angenommen, iſt vielleicht
nur der Name einer ſolchen verſunkenen Horde.

Zu Anfang der Eroberung Amerikas beſtanden große
geſellſchaftliche Vereine unter den Eingeborenen nur auf dem
Rücken der Kordilleren und auf den Aſien gegenüber liegenden
Küſten. Auf den mit Wald bedeckten, von Flüſſen durch-
ſchnittenen Ebenen, auf den endloſen Savannen, die ſich oft-
wärts ausbreiten und den Horizont begrenzen, traf man nur
umherziehende Völkerſchaften, getrennt durch Verſchiedenheit
der Sprache und der Sitten, zerſtreut gleich den Trümmern
eines Schiffbruchs. Wir wollen verſuchen, ob uns in Er-
mangelung aller anderen Denkmale die Verwandtſchaft der
Sprachen und die Beobachtung der Körperbildung dazu dienen
können, die verſchiedenen Stämme zu gruppieren, die Spuren
ihrer weiten Wanderungen zu verfolgen und ein paar jener
Familienzüge aufzufinden, durch die ſich die urſprüngliche
Einheit unſeres Geſchlechtes verrät.

Die Eingeborenen oder Ureinwohner bilden in den Län-
dern, deren Gebirge wir vor kurzem durchwandert, in den
beiden Provinzen Cumana und Nueva Barcelona, beinahe
noch die Hälfte der ſchwachen Bevölkerung. Ihre Kopfzahl
läßt ſich auf 60000 ſchätzen, wovon 24000 auf Neuanda-
luſien kommen. Dieſe Zahl iſt bedeutend gegenüber der
Stärke der Jägervölker in Nordamerika; ſie erſcheint klein,
wenn man die Teile von Neuſpanien dagegen hält, wo ſeit
mehr als acht Jahrhunderten der Ackerbau beſteht, z. B. die
Intendanz Oaxaca, in der die Mixteca und Tzapoteca des
alten mexikaniſchen Reiches liegen. Dieſe Intendanz iſt um
ein Dritteil kleiner als die zwei Provinzen Cumana und
Barcelona zuſammen, zählt aber über 400000 Einwohner von
der reinen kupferfarbigen Raſſe. Die Indianer in Cumana
leben nicht alle in den Miſſionsdörfern; man findet ſie zer-
ſtreut in der Umgegend der Städte, auf den Küſten, wohin
ſie des Fiſchfangs wegen ziehen, ſelbſt auf den kleinen Höfen
in den Llanos oder Savannen. In den Miſſionen der ara-
goneſiſchen Kapuziner, die wir beſucht, leben allein 15000
Indianer, die faſt ſämtlich dem Chaymasſtamm angehören.

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[4/0012] ſich der Geſchichte angehörte, ſo würden wir uns auf die indiſchen Sagen berufen, auf die Anſicht, die in den Geſetzen Manus und im Ramayana ſo oft ausgeſprochen wird, nach der die Wilden aus der bürgerlichen Geſellſchaft ausgeſtoßene, in die Wälder getriebene Stämme ſind. Das Wort Barbar, das wir von Griechen und Römern angenommen, iſt vielleicht nur der Name einer ſolchen verſunkenen Horde. Zu Anfang der Eroberung Amerikas beſtanden große geſellſchaftliche Vereine unter den Eingeborenen nur auf dem Rücken der Kordilleren und auf den Aſien gegenüber liegenden Küſten. Auf den mit Wald bedeckten, von Flüſſen durch- ſchnittenen Ebenen, auf den endloſen Savannen, die ſich oft- wärts ausbreiten und den Horizont begrenzen, traf man nur umherziehende Völkerſchaften, getrennt durch Verſchiedenheit der Sprache und der Sitten, zerſtreut gleich den Trümmern eines Schiffbruchs. Wir wollen verſuchen, ob uns in Er- mangelung aller anderen Denkmale die Verwandtſchaft der Sprachen und die Beobachtung der Körperbildung dazu dienen können, die verſchiedenen Stämme zu gruppieren, die Spuren ihrer weiten Wanderungen zu verfolgen und ein paar jener Familienzüge aufzufinden, durch die ſich die urſprüngliche Einheit unſeres Geſchlechtes verrät. Die Eingeborenen oder Ureinwohner bilden in den Län- dern, deren Gebirge wir vor kurzem durchwandert, in den beiden Provinzen Cumana und Nueva Barcelona, beinahe noch die Hälfte der ſchwachen Bevölkerung. Ihre Kopfzahl läßt ſich auf 60000 ſchätzen, wovon 24000 auf Neuanda- luſien kommen. Dieſe Zahl iſt bedeutend gegenüber der Stärke der Jägervölker in Nordamerika; ſie erſcheint klein, wenn man die Teile von Neuſpanien dagegen hält, wo ſeit mehr als acht Jahrhunderten der Ackerbau beſteht, z. B. die Intendanz Oaxaca, in der die Mixteca und Tzapoteca des alten mexikaniſchen Reiches liegen. Dieſe Intendanz iſt um ein Dritteil kleiner als die zwei Provinzen Cumana und Barcelona zuſammen, zählt aber über 400000 Einwohner von der reinen kupferfarbigen Raſſe. Die Indianer in Cumana leben nicht alle in den Miſſionsdörfern; man findet ſie zer- ſtreut in der Umgegend der Städte, auf den Küſten, wohin ſie des Fiſchfangs wegen ziehen, ſelbſt auf den kleinen Höfen in den Llanos oder Savannen. In den Miſſionen der ara- goneſiſchen Kapuziner, die wir beſucht, leben allein 15000 Indianer, die faſt ſämtlich dem Chaymasſtamm angehören.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/12>, abgerufen am 28.03.2024.