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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859.

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Zahnschmerzen sein sollte. Von diesem Uebel wissen die In-
dianer so gut wie nichts; auch die Weißen in den spanischen
Kolonieen, wenigstens in den heißen Landstrichen, wo die Tem-
peratur so gleichförmig ist, leiden selten daran. Auf dem
Rücken der Kordilleren, in Santa Fe und Popayan sind sie
demselben mehr ausgesetzt.

Die Chaymas haben, wie fast alle eingeborenen Völker,
die ich gesehen, kleine, schmale Hände. Ihre Füße aber sind
groß, und die Zehen bleiben beweglicher als gewöhnlich. Alle
Chaymas sehen einander ähnlich wie nahe Verwandte, und
diese gleichförmige Bildung, die von den Reisenden so oft
hervorgehoben worden ist, wird desto auffallender, als sich bei
ihnen zwischen dem zwanzigsten und fünfzigsten Jahre das Alter
nicht durch Hautrunzeln, durch graues Haar oder Hinfälligkeit
des Körpers verrät. Tritt man in eine Hütte, so kann man
oft unter den Erwachsenen kaum den Vater vom Sohn, die
eine Generation von der anderen unterscheiden. Nach meiner
Ansicht beruht dieser Familienzug auf zwei sehr verschiedenen
Momenten: auf den örtlichen Verhältnissen der indianischen
Völkerschaften und auf der niedrigen Stufe ihrer geistigen
Entwickelung. Die wilden Völker zerfallen in eine Unzahl
von Stämmen, die sich tödlich hassen und niemals Ehen unter-
einander schließen, selbst wenn ihre Mundarten demselben
Sprachstamme angehören und nur ein kleiner Flußarm oder
eine Hügelkette ihre Wohnsitze trennt. Je weniger zahlreich
die Stämme sind, desto mehr muß sich, wenn sich jahrhunderte-
lang dieselben Familien miteinander verbinden, eine gewisse
gleichförmige Bildung, ein organischer, recht eigentlich natio-
naler Typus festsetzen. 1 Dieser Typus erhält sich unter der
Zucht der Missionen, die nur eine Völkerschaft unter der Ob-
hut haben. Die Vereinzelung ist so stark wie früher; Ehen
werden nur unter Angehörigen derselben Dorfschaft geschlossen.
Für diese Blutsverwandtschaft, welche so ziemlich um eine

Küste, nur weiter ostwärts, bei den Goajiros an der Mündung
des Rio la Hacha. Diese Indianer, die wild geblieben sind, führen
das Pulver von kleinen calcinierten Muschelschalen in einer Frucht,
die als Kapsel dient, am Gürtel. Dieses Pulver des Goajiros ist
ein Handelsartikel, wie früher, nach Gomara, das der Indianer in
Paria. In Europa werden die Zähne vom übermäßigen Tabak-
rauchen gleichfalls gelb und schwarz. Wäre der Schluß richtig, man
rauche bei uns, weil man gelbe Zähne schöner finde als weiße?
1 S. Tacitus Germania. Kap. 4.

Zahnſchmerzen ſein ſollte. Von dieſem Uebel wiſſen die In-
dianer ſo gut wie nichts; auch die Weißen in den ſpaniſchen
Kolonieen, wenigſtens in den heißen Landſtrichen, wo die Tem-
peratur ſo gleichförmig iſt, leiden ſelten daran. Auf dem
Rücken der Kordilleren, in Santa Fé und Popayan ſind ſie
demſelben mehr ausgeſetzt.

Die Chaymas haben, wie faſt alle eingeborenen Völker,
die ich geſehen, kleine, ſchmale Hände. Ihre Füße aber ſind
groß, und die Zehen bleiben beweglicher als gewöhnlich. Alle
Chaymas ſehen einander ähnlich wie nahe Verwandte, und
dieſe gleichförmige Bildung, die von den Reiſenden ſo oft
hervorgehoben worden iſt, wird deſto auffallender, als ſich bei
ihnen zwiſchen dem zwanzigſten und fünfzigſten Jahre das Alter
nicht durch Hautrunzeln, durch graues Haar oder Hinfälligkeit
des Körpers verrät. Tritt man in eine Hütte, ſo kann man
oft unter den Erwachſenen kaum den Vater vom Sohn, die
eine Generation von der anderen unterſcheiden. Nach meiner
Anſicht beruht dieſer Familienzug auf zwei ſehr verſchiedenen
Momenten: auf den örtlichen Verhältniſſen der indianiſchen
Völkerſchaften und auf der niedrigen Stufe ihrer geiſtigen
Entwickelung. Die wilden Völker zerfallen in eine Unzahl
von Stämmen, die ſich tödlich haſſen und niemals Ehen unter-
einander ſchließen, ſelbſt wenn ihre Mundarten demſelben
Sprachſtamme angehören und nur ein kleiner Flußarm oder
eine Hügelkette ihre Wohnſitze trennt. Je weniger zahlreich
die Stämme ſind, deſto mehr muß ſich, wenn ſich jahrhunderte-
lang dieſelben Familien miteinander verbinden, eine gewiſſe
gleichförmige Bildung, ein organiſcher, recht eigentlich natio-
naler Typus feſtſetzen. 1 Dieſer Typus erhält ſich unter der
Zucht der Miſſionen, die nur eine Völkerſchaft unter der Ob-
hut haben. Die Vereinzelung iſt ſo ſtark wie früher; Ehen
werden nur unter Angehörigen derſelben Dorfſchaft geſchloſſen.
Für dieſe Blutsverwandtſchaft, welche ſo ziemlich um eine

Küſte, nur weiter oſtwärts, bei den Goajiros an der Mündung
des Rio la Hacha. Dieſe Indianer, die wild geblieben ſind, führen
das Pulver von kleinen calcinierten Muſchelſchalen in einer Frucht,
die als Kapſel dient, am Gürtel. Dieſes Pulver des Goajiros iſt
ein Handelsartikel, wie früher, nach Gomara, das der Indianer in
Paria. In Europa werden die Zähne vom übermäßigen Tabak-
rauchen gleichfalls gelb und ſchwarz. Wäre der Schluß richtig, man
rauche bei uns, weil man gelbe Zähne ſchöner finde als weiße?
1 S. Tacitus Germania. Kap. 4.
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[13/0021] Zahnſchmerzen ſein ſollte. Von dieſem Uebel wiſſen die In- dianer ſo gut wie nichts; auch die Weißen in den ſpaniſchen Kolonieen, wenigſtens in den heißen Landſtrichen, wo die Tem- peratur ſo gleichförmig iſt, leiden ſelten daran. Auf dem Rücken der Kordilleren, in Santa Fé und Popayan ſind ſie demſelben mehr ausgeſetzt. Die Chaymas haben, wie faſt alle eingeborenen Völker, die ich geſehen, kleine, ſchmale Hände. Ihre Füße aber ſind groß, und die Zehen bleiben beweglicher als gewöhnlich. Alle Chaymas ſehen einander ähnlich wie nahe Verwandte, und dieſe gleichförmige Bildung, die von den Reiſenden ſo oft hervorgehoben worden iſt, wird deſto auffallender, als ſich bei ihnen zwiſchen dem zwanzigſten und fünfzigſten Jahre das Alter nicht durch Hautrunzeln, durch graues Haar oder Hinfälligkeit des Körpers verrät. Tritt man in eine Hütte, ſo kann man oft unter den Erwachſenen kaum den Vater vom Sohn, die eine Generation von der anderen unterſcheiden. Nach meiner Anſicht beruht dieſer Familienzug auf zwei ſehr verſchiedenen Momenten: auf den örtlichen Verhältniſſen der indianiſchen Völkerſchaften und auf der niedrigen Stufe ihrer geiſtigen Entwickelung. Die wilden Völker zerfallen in eine Unzahl von Stämmen, die ſich tödlich haſſen und niemals Ehen unter- einander ſchließen, ſelbſt wenn ihre Mundarten demſelben Sprachſtamme angehören und nur ein kleiner Flußarm oder eine Hügelkette ihre Wohnſitze trennt. Je weniger zahlreich die Stämme ſind, deſto mehr muß ſich, wenn ſich jahrhunderte- lang dieſelben Familien miteinander verbinden, eine gewiſſe gleichförmige Bildung, ein organiſcher, recht eigentlich natio- naler Typus feſtſetzen. 1 Dieſer Typus erhält ſich unter der Zucht der Miſſionen, die nur eine Völkerſchaft unter der Ob- hut haben. Die Vereinzelung iſt ſo ſtark wie früher; Ehen werden nur unter Angehörigen derſelben Dorfſchaft geſchloſſen. Für dieſe Blutsverwandtſchaft, welche ſo ziemlich um eine 1 1 S. Tacitus Germania. Kap. 4. 1 Küſte, nur weiter oſtwärts, bei den Goajiros an der Mündung des Rio la Hacha. Dieſe Indianer, die wild geblieben ſind, führen das Pulver von kleinen calcinierten Muſchelſchalen in einer Frucht, die als Kapſel dient, am Gürtel. Dieſes Pulver des Goajiros iſt ein Handelsartikel, wie früher, nach Gomara, das der Indianer in Paria. In Europa werden die Zähne vom übermäßigen Tabak- rauchen gleichfalls gelb und ſchwarz. Wäre der Schluß richtig, man rauche bei uns, weil man gelbe Zähne ſchöner finde als weiße?

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/21>, abgerufen am 19.04.2024.