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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859.

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werk. Man erkennt die Künstlichkeit, man kann sagen den
ausgearbeiteten Mechanismus des Baues. Es ist, als bildeten
sie sich erst unter unseren Augen, und man könnte sie für
sehr neuen Ursprungs halten, wenn man nicht bedächte, daß
der menschliche Geist unverrückt einem einmal erhaltenen Anstoße
folgt, daß die Völker nach einem ursprünglich angelegten Plane
den grammatischen Bau ihrer Sprachen erweitern, vervoll-
kommnen oder ausbessern, und daß es Länder gibt, wo Sprache,
Verfassung, Sitten und Künste seit vielen Jahrhunderten wie
festgebannt sind.

Die höchste geistige Entwickelung hat bis jetzt bei den
Völkern stattgefunden, welche dem indischen und pelasgischen
Stamme angehören. Die hauptsächlich durch Aggregation ge-
bildeten Sprachen erscheinen als ein natürliches Hindernis der
Kulturentwickelung; es geht ihnen großenteils die rasche Be-
wegung ab, das innerliche Leben, die die Flexion der Wurzeln
mit sich bringt und die den Werken der Einbildungskraft den
Hauptreiz geben. Wir dürfen indessen nicht vergessen, daß
ein schon im hohen Altertum hochberühmtes Volk, dem selbst
die Griechen einen Teil ihrer Bildung entlehnten, vielleicht
eine Sprache hatte, die in ihrem Bau unwillkürlich an die
amerikanischen Sprachen erinnert. Welche Masse ein- oder
zweisilbiger Partikeln werden im Koptischen dem Zeitwort
oder Hauptwort angehängt! Das Chaymas und Tamanacu,
halb barbarische Sprachen, haben kurze abstrakte Benennungen
für Größe, Neid, Leichtsinn, cheictivate, uoite, uonde; aber
im Koptischen ist das Wort Bosheit, metrepherpeton, aus
fünf leicht zu unterscheidenden Elementen zusammengesetzt, und
bedeutet: die Eigenschaft (met) eines Subjektes (reph), das
thut (er) das Ding (pet), (das ist) böse (on). Und dennoch
hatte die koptische Sprache ihre Litteratur so gut wie die
chinesische, in der die Wurzeln nicht einmal aggregiert, sondern
kaum aneinander gerückt sind und sich gar nicht unmittelbar
berühren. So viel ist gewiß, sind einmal die Völker aus
ihrem Schlummer aufgerüttelt und auf die Bahn der Kultur
geworfen, so bietet ihnen die seltsamste Sprache das Werkzeug,
um Gedanken bestimmt auszudrücken und Seelenregungen zu
schildern. Ein achtungswerter Mann, der in der blutigen
Revolution von Quito das Leben verloren, Don Juan de la
Rea, hat ein paar Idyllen Theokrits in die Sprache der
Inka einfach und zierlich übertragen, und man hat mich ver-
sichert, mit Ausnahme naturwissenschaftlicher und philosophischer

werk. Man erkennt die Künſtlichkeit, man kann ſagen den
ausgearbeiteten Mechanismus des Baues. Es iſt, als bildeten
ſie ſich erſt unter unſeren Augen, und man könnte ſie für
ſehr neuen Urſprungs halten, wenn man nicht bedächte, daß
der menſchliche Geiſt unverrückt einem einmal erhaltenen Anſtoße
folgt, daß die Völker nach einem urſprünglich angelegten Plane
den grammatiſchen Bau ihrer Sprachen erweitern, vervoll-
kommnen oder ausbeſſern, und daß es Länder gibt, wo Sprache,
Verfaſſung, Sitten und Künſte ſeit vielen Jahrhunderten wie
feſtgebannt ſind.

Die höchſte geiſtige Entwickelung hat bis jetzt bei den
Völkern ſtattgefunden, welche dem indiſchen und pelasgiſchen
Stamme angehören. Die hauptſächlich durch Aggregation ge-
bildeten Sprachen erſcheinen als ein natürliches Hindernis der
Kulturentwickelung; es geht ihnen großenteils die raſche Be-
wegung ab, das innerliche Leben, die die Flexion der Wurzeln
mit ſich bringt und die den Werken der Einbildungskraft den
Hauptreiz geben. Wir dürfen indeſſen nicht vergeſſen, daß
ein ſchon im hohen Altertum hochberühmtes Volk, dem ſelbſt
die Griechen einen Teil ihrer Bildung entlehnten, vielleicht
eine Sprache hatte, die in ihrem Bau unwillkürlich an die
amerikaniſchen Sprachen erinnert. Welche Maſſe ein- oder
zweiſilbiger Partikeln werden im Koptiſchen dem Zeitwort
oder Hauptwort angehängt! Das Chaymas und Tamanacu,
halb barbariſche Sprachen, haben kurze abſtrakte Benennungen
für Größe, Neid, Leichtſinn, cheictivate, uoite, uonde; aber
im Koptiſchen iſt das Wort Bosheit, metrepherpeton, aus
fünf leicht zu unterſcheidenden Elementen zuſammengeſetzt, und
bedeutet: die Eigenſchaft (met) eines Subjektes (reph), das
thut (er) das Ding (pet), (das iſt) böſe (on). Und dennoch
hatte die koptiſche Sprache ihre Litteratur ſo gut wie die
chineſiſche, in der die Wurzeln nicht einmal aggregiert, ſondern
kaum aneinander gerückt ſind und ſich gar nicht unmittelbar
berühren. So viel iſt gewiß, ſind einmal die Völker aus
ihrem Schlummer aufgerüttelt und auf die Bahn der Kultur
geworfen, ſo bietet ihnen die ſeltſamſte Sprache das Werkzeug,
um Gedanken beſtimmt auszudrücken und Seelenregungen zu
ſchildern. Ein achtungswerter Mann, der in der blutigen
Revolution von Quito das Leben verloren, Don Juan de la
Rea, hat ein paar Idyllen Theokrits in die Sprache der
Inka einfach und zierlich übertragen, und man hat mich ver-
ſichert, mit Ausnahme naturwiſſenſchaftlicher und philoſophiſcher

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[35/0043] werk. Man erkennt die Künſtlichkeit, man kann ſagen den ausgearbeiteten Mechanismus des Baues. Es iſt, als bildeten ſie ſich erſt unter unſeren Augen, und man könnte ſie für ſehr neuen Urſprungs halten, wenn man nicht bedächte, daß der menſchliche Geiſt unverrückt einem einmal erhaltenen Anſtoße folgt, daß die Völker nach einem urſprünglich angelegten Plane den grammatiſchen Bau ihrer Sprachen erweitern, vervoll- kommnen oder ausbeſſern, und daß es Länder gibt, wo Sprache, Verfaſſung, Sitten und Künſte ſeit vielen Jahrhunderten wie feſtgebannt ſind. Die höchſte geiſtige Entwickelung hat bis jetzt bei den Völkern ſtattgefunden, welche dem indiſchen und pelasgiſchen Stamme angehören. Die hauptſächlich durch Aggregation ge- bildeten Sprachen erſcheinen als ein natürliches Hindernis der Kulturentwickelung; es geht ihnen großenteils die raſche Be- wegung ab, das innerliche Leben, die die Flexion der Wurzeln mit ſich bringt und die den Werken der Einbildungskraft den Hauptreiz geben. Wir dürfen indeſſen nicht vergeſſen, daß ein ſchon im hohen Altertum hochberühmtes Volk, dem ſelbſt die Griechen einen Teil ihrer Bildung entlehnten, vielleicht eine Sprache hatte, die in ihrem Bau unwillkürlich an die amerikaniſchen Sprachen erinnert. Welche Maſſe ein- oder zweiſilbiger Partikeln werden im Koptiſchen dem Zeitwort oder Hauptwort angehängt! Das Chaymas und Tamanacu, halb barbariſche Sprachen, haben kurze abſtrakte Benennungen für Größe, Neid, Leichtſinn, cheictivate, uoite, uonde; aber im Koptiſchen iſt das Wort Bosheit, metrepherpeton, aus fünf leicht zu unterſcheidenden Elementen zuſammengeſetzt, und bedeutet: die Eigenſchaft (met) eines Subjektes (reph), das thut (er) das Ding (pet), (das iſt) böſe (on). Und dennoch hatte die koptiſche Sprache ihre Litteratur ſo gut wie die chineſiſche, in der die Wurzeln nicht einmal aggregiert, ſondern kaum aneinander gerückt ſind und ſich gar nicht unmittelbar berühren. So viel iſt gewiß, ſind einmal die Völker aus ihrem Schlummer aufgerüttelt und auf die Bahn der Kultur geworfen, ſo bietet ihnen die ſeltſamſte Sprache das Werkzeug, um Gedanken beſtimmt auszudrücken und Seelenregungen zu ſchildern. Ein achtungswerter Mann, der in der blutigen Revolution von Quito das Leben verloren, Don Juan de la Rea, hat ein paar Idyllen Theokrits in die Sprache der Inka einfach und zierlich übertragen, und man hat mich ver- ſichert, mit Ausnahme naturwiſſenſchaftlicher und philoſophiſcher

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/43>, abgerufen am 18.04.2024.