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Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851.

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sagen möge, zur Verhütung der Uebertretung der Gesetze, zur
Befestigung der Sicherheit so gut als nichts gethan. Denn
Tugend und Laster hängen nicht an dieser oder jener Art des
Menschen zu sein, sind nicht mit dieser oder jener Charakter-
seite nothwendig verbunden; sondern es kommt in Rücksicht
auf sie weit mehr auf die Harmonie oder Disharmonie der ver-
schiedenen Charakterzüge, auf das Verhältniss der Kraft zu der
Summe der Neigungen u. s. f. an. Jede bestimmte Charakter-
bildung ist daher eigener Ausschweifungen fähig, und artet in
dieselben aus. Hat daher eine ganze Nation ausschliesslich vor-
züglich eine gewisse erhalten, so fehlt es an aller entgegenstre-
benden Kraft, und mithin an allem Gleichgewicht. Vielleicht
liegt sogar hierin auch ein Grund der häufigen Veränderungen
der Verfassung der alten Staaten. Jede Verfassung wirkte so
sehr auf den Nationalcharakter, dieser, bestimmt gebildet, artete
aus, und brachte eine neue hervor. Endlich wirkt öffentliche
Erziehung, wenn man ihr völlige Erreichung ihrer Absicht zuge-
stehn will, zu viel. Um die in einem Staat nothwendige Sicher-
heit zu erhalten, ist Umformung der Sitten selbst nicht noth-
wendig. Allein die Gründe, womit ich diese Behauptung zu
unterstützen gedenke, bewahre ich der Folge auf, da sie auf
das ganze Bestreben des Staats, auf die Sitten zu wirken, Be-
zug haben, und mir noch vorher von einem Paar einzelner, zu
demselben gehöriger Mittel zu reden übrig bleibt. Oeffentliche
Erziehung scheint mir daher ganz ausserhalb der Schranken zu
liegen, in welchen der Staat seine Wirksamkeit halten muss 1).


1) Ainsi c'est peut-etre un probleme de savoir, si les legislateurs Francais doi-
veut s'occuper de l'education publique autrement que pour en proteger les progres,
et si la constitution la plus favorable au developpement du moi humain et les
lois les plus propres a mettre chacun a sa place ne sont pas la seule education,
que le peuple doive attendre d'eux. l. c. p. 11. D'apres cela, les principes rigou-
reux sembleraient exiger que l'Assemblee Nationale ne s'occupat de l'education
que pour l'enlever a des pouvoirs, ou a des corps qui peuvent en depraver l'in-
fluence. l. c. p. 12.

sagen möge, zur Verhütung der Uebertretung der Gesetze, zur
Befestigung der Sicherheit so gut als nichts gethan. Denn
Tugend und Laster hängen nicht an dieser oder jener Art des
Menschen zu sein, sind nicht mit dieser oder jener Charakter-
seite nothwendig verbunden; sondern es kommt in Rücksicht
auf sie weit mehr auf die Harmonie oder Disharmonie der ver-
schiedenen Charakterzüge, auf das Verhältniss der Kraft zu der
Summe der Neigungen u. s. f. an. Jede bestimmte Charakter-
bildung ist daher eigener Ausschweifungen fähig, und artet in
dieselben aus. Hat daher eine ganze Nation ausschliesslich vor-
züglich eine gewisse erhalten, so fehlt es an aller entgegenstre-
benden Kraft, und mithin an allem Gleichgewicht. Vielleicht
liegt sogar hierin auch ein Grund der häufigen Veränderungen
der Verfassung der alten Staaten. Jede Verfassung wirkte so
sehr auf den Nationalcharakter, dieser, bestimmt gebildet, artete
aus, und brachte eine neue hervor. Endlich wirkt öffentliche
Erziehung, wenn man ihr völlige Erreichung ihrer Absicht zuge-
stehn will, zu viel. Um die in einem Staat nothwendige Sicher-
heit zu erhalten, ist Umformung der Sitten selbst nicht noth-
wendig. Allein die Gründe, womit ich diese Behauptung zu
unterstützen gedenke, bewahre ich der Folge auf, da sie auf
das ganze Bestreben des Staats, auf die Sitten zu wirken, Be-
zug haben, und mir noch vorher von einem Paar einzelner, zu
demselben gehöriger Mittel zu reden übrig bleibt. Oeffentliche
Erziehung scheint mir daher ganz ausserhalb der Schranken zu
liegen, in welchen der Staat seine Wirksamkeit halten muss 1).


1) Ainsi c’est peut-être un problême de savoir, si les législateurs Français doi-
veut s’occuper de l’éducation publique autrement que pour en protéger les progrès,
et si la constitution la plus favorable au développement du moi humain et les
lois les plus propres à mettre chacun à sa place ne sont pas la seule éducation,
que le peuple doive attendre d’eux. l. c. p. 11. D’après cela, les principes rigou-
reux sembleraient exiger que l’Assemblée Nationale ne s’occupât de l’éducation
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[60/0096] sagen möge, zur Verhütung der Uebertretung der Gesetze, zur Befestigung der Sicherheit so gut als nichts gethan. Denn Tugend und Laster hängen nicht an dieser oder jener Art des Menschen zu sein, sind nicht mit dieser oder jener Charakter- seite nothwendig verbunden; sondern es kommt in Rücksicht auf sie weit mehr auf die Harmonie oder Disharmonie der ver- schiedenen Charakterzüge, auf das Verhältniss der Kraft zu der Summe der Neigungen u. s. f. an. Jede bestimmte Charakter- bildung ist daher eigener Ausschweifungen fähig, und artet in dieselben aus. Hat daher eine ganze Nation ausschliesslich vor- züglich eine gewisse erhalten, so fehlt es an aller entgegenstre- benden Kraft, und mithin an allem Gleichgewicht. Vielleicht liegt sogar hierin auch ein Grund der häufigen Veränderungen der Verfassung der alten Staaten. Jede Verfassung wirkte so sehr auf den Nationalcharakter, dieser, bestimmt gebildet, artete aus, und brachte eine neue hervor. Endlich wirkt öffentliche Erziehung, wenn man ihr völlige Erreichung ihrer Absicht zuge- stehn will, zu viel. Um die in einem Staat nothwendige Sicher- heit zu erhalten, ist Umformung der Sitten selbst nicht noth- wendig. Allein die Gründe, womit ich diese Behauptung zu unterstützen gedenke, bewahre ich der Folge auf, da sie auf das ganze Bestreben des Staats, auf die Sitten zu wirken, Be- zug haben, und mir noch vorher von einem Paar einzelner, zu demselben gehöriger Mittel zu reden übrig bleibt. Oeffentliche Erziehung scheint mir daher ganz ausserhalb der Schranken zu liegen, in welchen der Staat seine Wirksamkeit halten muss 1). 1) Ainsi c’est peut-être un problême de savoir, si les législateurs Français doi- veut s’occuper de l’éducation publique autrement que pour en protéger les progrès, et si la constitution la plus favorable au développement du moi humain et les lois les plus propres à mettre chacun à sa place ne sont pas la seule éducation, que le peuple doive attendre d’eux. l. c. p. 11. D’après cela, les principes rigou- reux sembleraient exiger que l’Assemblée Nationale ne s’occupât de l’éducation que pour l’enlever à des pouvoirs, ou à des corps qui peuvent en dépraver l’in- fluence. l. c. p. 12.

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Zitationshilfe: Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/96>, abgerufen am 28.03.2024.