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Humboldt, Alexander von: Auszug eines Schreibens des Herrn Alexander v. Humboldt aus Cumaná in Südamerika vom 17ten Oktobr. 1800, an seinen Bruder, Herrn Wilhelm von Humboldt in Paris. In: Neue allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 58 (1801), S. 60-64.

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Jntelligenzblatt.
steste Mensch würde mit dem Beil in der Hand, in 20 Ta-
gen kaum eine französische Meile zurücklegen. Der Fluß
selbst ist so wenig befahren, daß kaum in zwey Monaten ein
indianisches Canot an diesen Ort kommt. Jn diesem aller-
gefährlichsten und bedenklichsten Augenblicke, schwellte ein
Windstoß das Segel unsers Schiffchens, und rettete uns auf
eine unbegreifliche Weise. Wir verloren nur einige Bücher
und Lebensmittel.

Wie glücklich fühlten wir uns, als wir nun des Abends,
nachdem wir an das Land gekommen und ausgestiegen waren,
mit einander auf dem Sande saßen, und unsre Abendmahlzeit
hielten, daß keiner von unserer Gesellschaft fehlte. Die Nacht
war dunkel, und der Mond kam nur augenblicklich durch die
vom Winde gejagten Wolken zum Vorschein. Der Mönch,
der bey uns war, richtete sich mit seinem Gebete an den h.
Franciscus und an die h. Jungfrau. Die andern alle waren
in tiefen Gedanken, gerührt, und mit der Zukunft beschäff-
tiget. Wir waren von den großen Wasserfällen, die wir in
zwey Tagen passiren sollten, noch gegen Norden, und hatten
noch mehr als 700 Meilen mit unserer Pirogue zu machen,
welche, wie uns die Erfahrung gelehrt hatte, gar leicht um-
schlagen konnte. Diese Unruhe dauerte indeß nur eine Nacht.
Der darauf folgende Tag war sehr schön; und die Ruhe und
Heiterkeit, welche sich über die ganze Natur verbreitete, kehrte
auch in unsre Seelen zurück. Wir begegneten des Vormit-
tags einer Familie Caraiben, die von der Mündung des Ori-
noko kam, um Schildkröten-Eyer zu suchen, und diese schreck-
liche Reise von 200 Meilen mehr zum Vergnügen und aus
Liebe zur Jagd, als aus Nothwendigkeit unternommen hatte.
Diese Gesellschaft ließ uns vollends alle unsere Widerwärtig-
keiten vergessen.

Nach einem monatlichen Aufenthalte in Guyana, nah-
men wir abermals den Weg durch die Lianos, um nach Bar-
celona oder Cumanagota zu kommen. Wir hatten dieses
Land schon im Monate Januar durchreiset. Damals hatten
wir durch den Staub und an Wassermangel sehr viel gelit-
ten, und mußten oft einen Umweg von 3 bis 4 Meilen ma-
chen, um etwas faules Wasser zu finden. Dieses mal war
die Regenzeit; und nur mit Mühe konnten wir in den über-
schwemmten Ebenen vorwärts kommen. Dieses Land gleicht
in dieser Jahreszeit Nieder-Aegypten.



Jntelligenzblatt.
ſteſte Menſch würde mit dem Beil in der Hand, in 20 Ta-
gen kaum eine franzöſiſche Meile zurücklegen. Der Fluß
ſelbſt iſt ſo wenig befahren, daß kaum in zwey Monaten ein
indianiſches Canot an dieſen Ort kommt. Jn dieſem aller-
gefährlichſten und bedenklichſten Augenblicke, ſchwellte ein
Windſtoß das Segel unſers Schiffchens, und rettete uns auf
eine unbegreifliche Weiſe. Wir verloren nur einige Bücher
und Lebensmittel.

Wie glücklich fühlten wir uns, als wir nun des Abends,
nachdem wir an das Land gekommen und ausgeſtiegen waren,
mit einander auf dem Sande ſaßen, und unſre Abendmahlzeit
hielten, daß keiner von unſerer Geſellſchaft fehlte. Die Nacht
war dunkel, und der Mond kam nur augenblicklich durch die
vom Winde gejagten Wolken zum Vorſchein. Der Mönch,
der bey uns war, richtete ſich mit ſeinem Gebete an den h.
Franciscus und an die h. Jungfrau. Die andern alle waren
in tiefen Gedanken, gerührt, und mit der Zukunft beſchäff-
tiget. Wir waren von den großen Waſſerfällen, die wir in
zwey Tagen paſſiren ſollten, noch gegen Norden, und hatten
noch mehr als 700 Meilen mit unſerer Pirogue zu machen,
welche, wie uns die Erfahrung gelehrt hatte, gar leicht um-
ſchlagen konnte. Dieſe Unruhe dauerte indeß nur eine Nacht.
Der darauf folgende Tag war ſehr ſchön; und die Ruhe und
Heiterkeit, welche ſich über die ganze Natur verbreitete, kehrte
auch in unſre Seelen zurück. Wir begegneten des Vormit-
tags einer Familie Caraiben, die von der Mündung des Ori-
noko kam, um Schildkröten-Eyer zu ſuchen, und dieſe ſchreck-
liche Reiſe von 200 Meilen mehr zum Vergnügen und aus
Liebe zur Jagd, als aus Nothwendigkeit unternommen hatte.
Dieſe Geſellſchaft ließ uns vollends alle unſere Widerwärtig-
keiten vergeſſen.

Nach einem monatlichen Aufenthalte in Guyana, nah-
men wir abermals den Weg durch die Lianos, um nach Bar-
celona oder Cumanagota zu kommen. Wir hatten dieſes
Land ſchon im Monate Januar durchreiſet. Damals hatten
wir durch den Staub und an Waſſermangel ſehr viel gelit-
ten, und mußten oft einen Umweg von 3 bis 4 Meilen ma-
chen, um etwas faules Waſſer zu finden. Dieſes mal war
die Regenzeit; und nur mit Mühe konnten wir in den über-
ſchwemmten Ebenen vorwärts kommen. Dieſes Land gleicht
in dieſer Jahreszeit Nieder-Aegypten.



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[64/0006] Jntelligenzblatt. ſteſte Menſch würde mit dem Beil in der Hand, in 20 Ta- gen kaum eine franzöſiſche Meile zurücklegen. Der Fluß ſelbſt iſt ſo wenig befahren, daß kaum in zwey Monaten ein indianiſches Canot an dieſen Ort kommt. Jn dieſem aller- gefährlichſten und bedenklichſten Augenblicke, ſchwellte ein Windſtoß das Segel unſers Schiffchens, und rettete uns auf eine unbegreifliche Weiſe. Wir verloren nur einige Bücher und Lebensmittel. Wie glücklich fühlten wir uns, als wir nun des Abends, nachdem wir an das Land gekommen und ausgeſtiegen waren, mit einander auf dem Sande ſaßen, und unſre Abendmahlzeit hielten, daß keiner von unſerer Geſellſchaft fehlte. Die Nacht war dunkel, und der Mond kam nur augenblicklich durch die vom Winde gejagten Wolken zum Vorſchein. Der Mönch, der bey uns war, richtete ſich mit ſeinem Gebete an den h. Franciscus und an die h. Jungfrau. Die andern alle waren in tiefen Gedanken, gerührt, und mit der Zukunft beſchäff- tiget. Wir waren von den großen Waſſerfällen, die wir in zwey Tagen paſſiren ſollten, noch gegen Norden, und hatten noch mehr als 700 Meilen mit unſerer Pirogue zu machen, welche, wie uns die Erfahrung gelehrt hatte, gar leicht um- ſchlagen konnte. Dieſe Unruhe dauerte indeß nur eine Nacht. Der darauf folgende Tag war ſehr ſchön; und die Ruhe und Heiterkeit, welche ſich über die ganze Natur verbreitete, kehrte auch in unſre Seelen zurück. Wir begegneten des Vormit- tags einer Familie Caraiben, die von der Mündung des Ori- noko kam, um Schildkröten-Eyer zu ſuchen, und dieſe ſchreck- liche Reiſe von 200 Meilen mehr zum Vergnügen und aus Liebe zur Jagd, als aus Nothwendigkeit unternommen hatte. Dieſe Geſellſchaft ließ uns vollends alle unſere Widerwärtig- keiten vergeſſen. Nach einem monatlichen Aufenthalte in Guyana, nah- men wir abermals den Weg durch die Lianos, um nach Bar- celona oder Cumanagota zu kommen. Wir hatten dieſes Land ſchon im Monate Januar durchreiſet. Damals hatten wir durch den Staub und an Waſſermangel ſehr viel gelit- ten, und mußten oft einen Umweg von 3 bis 4 Meilen ma- chen, um etwas faules Waſſer zu finden. Dieſes mal war die Regenzeit; und nur mit Mühe konnten wir in den über- ſchwemmten Ebenen vorwärts kommen. Dieſes Land gleicht in dieſer Jahreszeit Nieder-Aegypten.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Auszug eines Schreibens des Herrn Alexander v. Humboldt aus Cumaná in Südamerika vom 17ten Oktobr. 1800, an seinen Bruder, Herrn Wilhelm von Humboldt in Paris. In: Neue allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 58 (1801), S. 60-64, hier S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_wilhelm_1801/6>, abgerufen am 25.04.2024.