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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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I. Prinzip des subj. Willens -- System der Selbsthülfe. §. 11.
natürliche Begründungsart von Rechtsverhältnissen, daß wir
keinen Anstand nehmen, diese Auffassung auch den Römern
unterzulegen, allein ich halte das für grundfalsch, wie ich im
zweiten System ausführlicher nachzuweisen gedenke. An dieser
Stelle genügt die Bemerkung, daß die Uebertragung des Ei-
genthums durch Vertrag im ältesten Recht nicht als solche Kraft
und Gültigkeit hatte, sondern dadurch, daß sie sich der Idee des
Beuterechts accommodirte. Eigenthum ist ursprünglich nichts,
als Recht am erbeuteten Gegenstand, entsteht mithin nur durch
Erbeutung. Wenn also Jemand, anstatt sich die Sache, deren
er bedarf, vom Feinde zu holen, einen Genossen darum angeht,
und dieser sie ihm nicht bloß zum Besitz, sondern als Eigenthum
d. h. als "sein nach dem Recht der Beute" übertragen will, so
kann dies nur in der Weise geschehen, daß letzterer sie sich ent-
reißen läßt, der neue Innehaber also als "der, welcher die Sache
erbeutet hat" d. h. als Eigenthümer erscheint.

Wir wenden uns jetzt der Gewalt zu in ihrer Richtung auf
den Schutz, die Verwirklichung des Rechts.

2. Der thatkräftige subjektive Wille in seiner Richtung auf Schutz
und Verwirklichung des Rechts -- Das System der Selbsthülfe --
Die Selbsthülfe unter Voraussetzung eines zweifellosen An-
spruchs -- Die Privatrache und der Ursprung der Privatstrafen --
Zusicherung des Beistandes von Seiten Einzelner und des
ganzen Volks (testimonium = Garantie des Rechts).

XI. Die ersten unausbleiblichen Regungen des verletzten
Rechtsgefühls bestehen in der gewaltsamen Reaction gegen das
zugefügte Unrecht, in der Selbsthülfe und Rache; mit Selbst-
hülfe und Rache hat daher ein jedes Recht begonnen. Aber die-
ser Anfang ist nach unserer heutigen Auffassung nichts als das
vorstaatliche Chaos, in dem Recht und Gewalt sich noch nicht
gesondert haben, und von Recht also keine Rede sein kann.
Letzteres soll erst entstehn, wenn der Staat jene Aufwallungen
des subjektiven Rechtsgefühls bezwungen und Organe zur Ver-

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I. Prinzip des ſubj. Willens — Syſtem der Selbſthülfe. §. 11.
natürliche Begründungsart von Rechtsverhältniſſen, daß wir
keinen Anſtand nehmen, dieſe Auffaſſung auch den Römern
unterzulegen, allein ich halte das für grundfalſch, wie ich im
zweiten Syſtem ausführlicher nachzuweiſen gedenke. An dieſer
Stelle genügt die Bemerkung, daß die Uebertragung des Ei-
genthums durch Vertrag im älteſten Recht nicht als ſolche Kraft
und Gültigkeit hatte, ſondern dadurch, daß ſie ſich der Idee des
Beuterechts accommodirte. Eigenthum iſt urſprünglich nichts,
als Recht am erbeuteten Gegenſtand, entſteht mithin nur durch
Erbeutung. Wenn alſo Jemand, anſtatt ſich die Sache, deren
er bedarf, vom Feinde zu holen, einen Genoſſen darum angeht,
und dieſer ſie ihm nicht bloß zum Beſitz, ſondern als Eigenthum
d. h. als „ſein nach dem Recht der Beute“ übertragen will, ſo
kann dies nur in der Weiſe geſchehen, daß letzterer ſie ſich ent-
reißen läßt, der neue Innehaber alſo als „der, welcher die Sache
erbeutet hat“ d. h. als Eigenthümer erſcheint.

Wir wenden uns jetzt der Gewalt zu in ihrer Richtung auf
den Schutz, die Verwirklichung des Rechts.

2. Der thatkräftige ſubjektive Wille in ſeiner Richtung auf Schutz
und Verwirklichung des Rechts — Das Syſtem der Selbſthülfe —
Die Selbſthülfe unter Vorausſetzung eines zweifelloſen An-
ſpruchs — Die Privatrache und der Urſprung der Privatſtrafen —
Zuſicherung des Beiſtandes von Seiten Einzelner und des
ganzen Volks (testimonium = Garantie des Rechts).

XI. Die erſten unausbleiblichen Regungen des verletzten
Rechtsgefühls beſtehen in der gewaltſamen Reaction gegen das
zugefügte Unrecht, in der Selbſthülfe und Rache; mit Selbſt-
hülfe und Rache hat daher ein jedes Recht begonnen. Aber die-
ſer Anfang iſt nach unſerer heutigen Auffaſſung nichts als das
vorſtaatliche Chaos, in dem Recht und Gewalt ſich noch nicht
geſondert haben, und von Recht alſo keine Rede ſein kann.
Letzteres ſoll erſt entſtehn, wenn der Staat jene Aufwallungen
des ſubjektiven Rechtsgefühls bezwungen und Organe zur Ver-

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[115/0133] I. Prinzip des ſubj. Willens — Syſtem der Selbſthülfe. §. 11. natürliche Begründungsart von Rechtsverhältniſſen, daß wir keinen Anſtand nehmen, dieſe Auffaſſung auch den Römern unterzulegen, allein ich halte das für grundfalſch, wie ich im zweiten Syſtem ausführlicher nachzuweiſen gedenke. An dieſer Stelle genügt die Bemerkung, daß die Uebertragung des Ei- genthums durch Vertrag im älteſten Recht nicht als ſolche Kraft und Gültigkeit hatte, ſondern dadurch, daß ſie ſich der Idee des Beuterechts accommodirte. Eigenthum iſt urſprünglich nichts, als Recht am erbeuteten Gegenſtand, entſteht mithin nur durch Erbeutung. Wenn alſo Jemand, anſtatt ſich die Sache, deren er bedarf, vom Feinde zu holen, einen Genoſſen darum angeht, und dieſer ſie ihm nicht bloß zum Beſitz, ſondern als Eigenthum d. h. als „ſein nach dem Recht der Beute“ übertragen will, ſo kann dies nur in der Weiſe geſchehen, daß letzterer ſie ſich ent- reißen läßt, der neue Innehaber alſo als „der, welcher die Sache erbeutet hat“ d. h. als Eigenthümer erſcheint. Wir wenden uns jetzt der Gewalt zu in ihrer Richtung auf den Schutz, die Verwirklichung des Rechts. 2. Der thatkräftige ſubjektive Wille in ſeiner Richtung auf Schutz und Verwirklichung des Rechts — Das Syſtem der Selbſthülfe — Die Selbſthülfe unter Vorausſetzung eines zweifelloſen An- ſpruchs — Die Privatrache und der Urſprung der Privatſtrafen — Zuſicherung des Beiſtandes von Seiten Einzelner und des ganzen Volks (testimonium = Garantie des Rechts). XI. Die erſten unausbleiblichen Regungen des verletzten Rechtsgefühls beſtehen in der gewaltſamen Reaction gegen das zugefügte Unrecht, in der Selbſthülfe und Rache; mit Selbſt- hülfe und Rache hat daher ein jedes Recht begonnen. Aber die- ſer Anfang iſt nach unſerer heutigen Auffaſſung nichts als das vorſtaatliche Chaos, in dem Recht und Gewalt ſich noch nicht geſondert haben, und von Recht alſo keine Rede ſein kann. Letzteres ſoll erſt entſtehn, wenn der Staat jene Aufwallungen des ſubjektiven Rechtsgefühls bezwungen und Organe zur Ver- 8*

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/133>, abgerufen am 25.04.2024.