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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Erstes Buch -- Uebergang zum spezifisch römischen Recht.
2. Verhalten des römischen Geistes zu den gegebenen
Ausgangspunkten.

XXI. Die Ausgangspunkte des römischen Rechts, die wir
früher haben kennen lernen, geben uns die erste Gelegenheit,
die so eben charakterisirte Eigenthümlichkeit des römischen Gei-
stes daran zu erproben. Jene Ausgangspunkte als solche ent-
halten an sich noch nichts eigenthümliches; die ihnen zu Grunde
liegenden Prinzipien werden sich in den Rechten der meisten
Völker nachweisen lassen. Was das römische anbetrifft, so reichen
sie, wie früher bereits bemerkt, weit über Rom hinaus, und es
mag sich noch manches Einzelne, das wir oben bei Gelegenheit
derselben haben kennen lernen, aus der frühern Gemeinschaft
aller indogermanischen Völker herschreiben.

Wie sehr aber immerhin die Anfänge des Rechts bei den
meisten Völkern sich gleichen mögen, die allmählige Entwicklung
der Volksindividualität, die Verschiedenheit der Schicksale und
äußeren Verhältnisse wirkt bald auf das Recht zurück. Bei man-
chen Völkern dauern jene Ausgangsprinzipien noch lange fort,
aber ihr inneres Verhältniß zu einander wird ein anderes, bald
überwiegt das eine Prinzip, bald das andere. Manches Volk
streift umgekehrt früh die Formen seiner Kindheit ab und nimmt
vollendetere an; kurz die fernern Wege gehen weit aus einander.

Wir wollen jetzt untersuchen, welche Schicksale jene Aus-
gangsprinzipien in Rom gefunden haben, und wir wenden uns
zuerst dem religiösen zu, weil dies meiner Ansicht nach am früh-
sten seine ursprüngliche Bedeutung verliert und am ersten eine
abgesonderte Darstellung verträgt.

Heftet man seinen Blick bloß auf die äußere Erscheinung,
so sollte man glauben, daß das religiöse Prinzip noch lange in
Rom in vollster Kraft bestanden habe. Wohin man sieht, im
öffentlichen wie im Privatleben, drängt sich noch bis gegen das
Ende der Republik die Religion in den Vordergrund; kein

Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
2. Verhalten des römiſchen Geiſtes zu den gegebenen
Ausgangspunkten.

XXI. Die Ausgangspunkte des römiſchen Rechts, die wir
früher haben kennen lernen, geben uns die erſte Gelegenheit,
die ſo eben charakteriſirte Eigenthümlichkeit des römiſchen Gei-
ſtes daran zu erproben. Jene Ausgangspunkte als ſolche ent-
halten an ſich noch nichts eigenthümliches; die ihnen zu Grunde
liegenden Prinzipien werden ſich in den Rechten der meiſten
Völker nachweiſen laſſen. Was das römiſche anbetrifft, ſo reichen
ſie, wie früher bereits bemerkt, weit über Rom hinaus, und es
mag ſich noch manches Einzelne, das wir oben bei Gelegenheit
derſelben haben kennen lernen, aus der frühern Gemeinſchaft
aller indogermaniſchen Völker herſchreiben.

Wie ſehr aber immerhin die Anfänge des Rechts bei den
meiſten Völkern ſich gleichen mögen, die allmählige Entwicklung
der Volksindividualität, die Verſchiedenheit der Schickſale und
äußeren Verhältniſſe wirkt bald auf das Recht zurück. Bei man-
chen Völkern dauern jene Ausgangsprinzipien noch lange fort,
aber ihr inneres Verhältniß zu einander wird ein anderes, bald
überwiegt das eine Prinzip, bald das andere. Manches Volk
ſtreift umgekehrt früh die Formen ſeiner Kindheit ab und nimmt
vollendetere an; kurz die fernern Wege gehen weit aus einander.

Wir wollen jetzt unterſuchen, welche Schickſale jene Aus-
gangsprinzipien in Rom gefunden haben, und wir wenden uns
zuerſt dem religiöſen zu, weil dies meiner Anſicht nach am früh-
ſten ſeine urſprüngliche Bedeutung verliert und am erſten eine
abgeſonderte Darſtellung verträgt.

Heftet man ſeinen Blick bloß auf die äußere Erſcheinung,
ſo ſollte man glauben, daß das religiöſe Prinzip noch lange in
Rom in vollſter Kraft beſtanden habe. Wohin man ſieht, im
öffentlichen wie im Privatleben, drängt ſich noch bis gegen das
Ende der Republik die Religion in den Vordergrund; kein

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[314/0332] Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht. 2. Verhalten des römiſchen Geiſtes zu den gegebenen Ausgangspunkten. XXI. Die Ausgangspunkte des römiſchen Rechts, die wir früher haben kennen lernen, geben uns die erſte Gelegenheit, die ſo eben charakteriſirte Eigenthümlichkeit des römiſchen Gei- ſtes daran zu erproben. Jene Ausgangspunkte als ſolche ent- halten an ſich noch nichts eigenthümliches; die ihnen zu Grunde liegenden Prinzipien werden ſich in den Rechten der meiſten Völker nachweiſen laſſen. Was das römiſche anbetrifft, ſo reichen ſie, wie früher bereits bemerkt, weit über Rom hinaus, und es mag ſich noch manches Einzelne, das wir oben bei Gelegenheit derſelben haben kennen lernen, aus der frühern Gemeinſchaft aller indogermaniſchen Völker herſchreiben. Wie ſehr aber immerhin die Anfänge des Rechts bei den meiſten Völkern ſich gleichen mögen, die allmählige Entwicklung der Volksindividualität, die Verſchiedenheit der Schickſale und äußeren Verhältniſſe wirkt bald auf das Recht zurück. Bei man- chen Völkern dauern jene Ausgangsprinzipien noch lange fort, aber ihr inneres Verhältniß zu einander wird ein anderes, bald überwiegt das eine Prinzip, bald das andere. Manches Volk ſtreift umgekehrt früh die Formen ſeiner Kindheit ab und nimmt vollendetere an; kurz die fernern Wege gehen weit aus einander. Wir wollen jetzt unterſuchen, welche Schickſale jene Aus- gangsprinzipien in Rom gefunden haben, und wir wenden uns zuerſt dem religiöſen zu, weil dies meiner Anſicht nach am früh- ſten ſeine urſprüngliche Bedeutung verliert und am erſten eine abgeſonderte Darſtellung verträgt. Heftet man ſeinen Blick bloß auf die äußere Erſcheinung, ſo ſollte man glauben, daß das religiöſe Prinzip noch lange in Rom in vollſter Kraft beſtanden habe. Wohin man ſieht, im öffentlichen wie im Privatleben, drängt ſich noch bis gegen das Ende der Republik die Religion in den Vordergrund; kein

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/332>, abgerufen am 23.04.2024.