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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweites Buch. Erster Abschnitt. II. Die Grundtriebe.
genügte, einfach darauf Bezug zu nehmen. Es gilt namentlich
im folgenden einer Anschauungsweise entgegen zu treten, die in
einem mangelnden Verständniß für das Wesen der Freiheit
ihren Grund hat, und die sich nicht bloß in unsern Zuständen
und Einrichtungen seit geraumer Zeit verkörpert, sondern --
was uns hier ja zunächst berührt -- für das römische Recht die
schiefsten und verkehrtesten Urtheile zur Folge gehabt hat. Wenn
ich nun zwar nur im Interesse des letzteren veranlaßt bin, gegen
jene Anschauungsweise zu polemisiren, so glaube ich mein Ziel
doch nicht besser erreichen zu können, als wenn ich den apologe-
tischen Zweck zunächst außer Augen setze und jene Auffassungs-
weise ganz abgesehn vom römischen Recht einer Kritik unter-
werfe.


Einer der fundamentalsten Divergenzpunkte in dem Recht der
verschiedensten Völker ist die Art und Weise, wie die Gesetzge-
bung für die Zwecke und Aufgaben der Gemeinschaft thätig wird.
Diese Thätigkeit kann nämlich, wenn man die Gegensätze nimmt,
entweder mehr negativer und indirekter, oder mehr positiver und
direkter Art sein. Dort beschränkt die Gesetzgebung sich im we-
sentlichen darauf, die Voraussetzungen für die Verfolgung
aller jener Aufgaben herzustellen und zu erhalten und höchstens
eine indirekte Beihülfe zu gewähren, die eigentliche Arbeit aber
der freien Thätigkeit des Volks (der Einzelnen, Corporationen,
Gemeinden u. s. w.) zu überlassen, so daß also diese Thätigkeit
als die eigentliche vis agens des ganzen Systems erscheint.
Dieses System, das nach einer einzelnen Seite hin unter dem
Namen der Selbstregierung bekannt ist, nenne ich das System
der Freiheit. Den Gegensatz dazu bildet ein System, bei dem
die Gesetzgebung und Regierung die eigentliche Arbeit selbst in
die Hand nimmt, 141) positiv durch Gesetz und Zwang die Errei-

141) Von den modernen Völkern repräsentirt vorzugsweise das englische
das erste, das französische das zweite. Spiegelt sich derselbe Gegensatz nicht

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
genügte, einfach darauf Bezug zu nehmen. Es gilt namentlich
im folgenden einer Anſchauungsweiſe entgegen zu treten, die in
einem mangelnden Verſtändniß für das Weſen der Freiheit
ihren Grund hat, und die ſich nicht bloß in unſern Zuſtänden
und Einrichtungen ſeit geraumer Zeit verkörpert, ſondern —
was uns hier ja zunächſt berührt — für das römiſche Recht die
ſchiefſten und verkehrteſten Urtheile zur Folge gehabt hat. Wenn
ich nun zwar nur im Intereſſe des letzteren veranlaßt bin, gegen
jene Anſchauungsweiſe zu polemiſiren, ſo glaube ich mein Ziel
doch nicht beſſer erreichen zu können, als wenn ich den apologe-
tiſchen Zweck zunächſt außer Augen ſetze und jene Auffaſſungs-
weiſe ganz abgeſehn vom römiſchen Recht einer Kritik unter-
werfe.


Einer der fundamentalſten Divergenzpunkte in dem Recht der
verſchiedenſten Völker iſt die Art und Weiſe, wie die Geſetzge-
bung für die Zwecke und Aufgaben der Gemeinſchaft thätig wird.
Dieſe Thätigkeit kann nämlich, wenn man die Gegenſätze nimmt,
entweder mehr negativer und indirekter, oder mehr poſitiver und
direkter Art ſein. Dort beſchränkt die Geſetzgebung ſich im we-
ſentlichen darauf, die Vorausſetzungen für die Verfolgung
aller jener Aufgaben herzuſtellen und zu erhalten und höchſtens
eine indirekte Beihülfe zu gewähren, die eigentliche Arbeit aber
der freien Thätigkeit des Volks (der Einzelnen, Corporationen,
Gemeinden u. ſ. w.) zu überlaſſen, ſo daß alſo dieſe Thätigkeit
als die eigentliche vis agens des ganzen Syſtems erſcheint.
Dieſes Syſtem, das nach einer einzelnen Seite hin unter dem
Namen der Selbſtregierung bekannt iſt, nenne ich das Syſtem
der Freiheit. Den Gegenſatz dazu bildet ein Syſtem, bei dem
die Geſetzgebung und Regierung die eigentliche Arbeit ſelbſt in
die Hand nimmt, 141) poſitiv durch Geſetz und Zwang die Errei-

141) Von den modernen Völkern repräſentirt vorzugsweiſe das engliſche
das erſte, das franzöſiſche das zweite. Spiegelt ſich derſelbe Gegenſatz nicht
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[124/0138] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe. genügte, einfach darauf Bezug zu nehmen. Es gilt namentlich im folgenden einer Anſchauungsweiſe entgegen zu treten, die in einem mangelnden Verſtändniß für das Weſen der Freiheit ihren Grund hat, und die ſich nicht bloß in unſern Zuſtänden und Einrichtungen ſeit geraumer Zeit verkörpert, ſondern — was uns hier ja zunächſt berührt — für das römiſche Recht die ſchiefſten und verkehrteſten Urtheile zur Folge gehabt hat. Wenn ich nun zwar nur im Intereſſe des letzteren veranlaßt bin, gegen jene Anſchauungsweiſe zu polemiſiren, ſo glaube ich mein Ziel doch nicht beſſer erreichen zu können, als wenn ich den apologe- tiſchen Zweck zunächſt außer Augen ſetze und jene Auffaſſungs- weiſe ganz abgeſehn vom römiſchen Recht einer Kritik unter- werfe. Einer der fundamentalſten Divergenzpunkte in dem Recht der verſchiedenſten Völker iſt die Art und Weiſe, wie die Geſetzge- bung für die Zwecke und Aufgaben der Gemeinſchaft thätig wird. Dieſe Thätigkeit kann nämlich, wenn man die Gegenſätze nimmt, entweder mehr negativer und indirekter, oder mehr poſitiver und direkter Art ſein. Dort beſchränkt die Geſetzgebung ſich im we- ſentlichen darauf, die Vorausſetzungen für die Verfolgung aller jener Aufgaben herzuſtellen und zu erhalten und höchſtens eine indirekte Beihülfe zu gewähren, die eigentliche Arbeit aber der freien Thätigkeit des Volks (der Einzelnen, Corporationen, Gemeinden u. ſ. w.) zu überlaſſen, ſo daß alſo dieſe Thätigkeit als die eigentliche vis agens des ganzen Syſtems erſcheint. Dieſes Syſtem, das nach einer einzelnen Seite hin unter dem Namen der Selbſtregierung bekannt iſt, nenne ich das Syſtem der Freiheit. Den Gegenſatz dazu bildet ein Syſtem, bei dem die Geſetzgebung und Regierung die eigentliche Arbeit ſelbſt in die Hand nimmt, 141) poſitiv durch Geſetz und Zwang die Errei- 141) Von den modernen Völkern repräſentirt vorzugsweiſe das engliſche das erſte, das franzöſiſche das zweite. Spiegelt ſich derſelbe Gegenſatz nicht

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/138>, abgerufen am 29.03.2024.