Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweit. Buch. Erst. Abschn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Die Verschiedenheit, die in dieser Beziehung zwischen dem rö-
mischen und dem modernen Recht besteht, ist namentlich für das
Erbrecht interessant. Die Gegensätze zwischen Freiheit und Ge-
bundenheit haben sich hier in eigenthümlicher Weise vertheilt.
Nach römischem Recht beschränkt sich die testamentarische Dis-
positionsbefugniß lediglich auf das relative Verhältniß des
Eigenthümers zum Eigenthum; sein Recht kann er vermachen,
wem er Lust hat, in dieser Beziehung ist er völlig unbeschränkt.
Dagegen den absoluten Gehalt des Eigenthums kann er ab-
gesehn von der Anordnung von Servituten nicht verkürzen, der
Erbe bekömmt das Eigenthum in der ganzen Freiheit, die der
Eigenthumsbegriff mit sich bringt, kann also unter Lebenden
wie im Testament ganz nach eignem Belieben disponiren. Bei
den modernen Völkern gerade umgekehrt; dort Beschränkungen
der Dispositionsbefugniß, hier eine Erweiterung derselben bis
zu dem Grade, daß der Wille des Testators das Eigenthum für
alle Zeiten, so zu sagen, lahm legen kann (Familienfideikom-
misse u. s. w.). Ich will die Trifftigkeit des Motivs dieser Ver-
schiedenheit nicht verkennen, nämlich die Rücksicht auf die Fa-
milie, und am wenigsten hinsichtlich des ersten Punktes. Was
aber den zweiten betrifft, so muß man, um ein richtiges Urtheil
über denselben zu gewinnen, sich nur vergegenwärtigen, wohin
es führen würde, wenn nicht bloß ein einzelner Stand, sondern
alle Klassen des Volks in größerem Maßstabe von jener Befug-
niß Gebrauch machen würden. Das ganze Eigenthum im Staat
könnte auf diese Weise einer rechtlichen Erstarrung anheim fal-
len, die Freiheit des Verkehrs für ewige Zeiten gelähmt, der
Fortschritt namenlos erschwert, ja vielfach völlig unmöglich ge-
macht werden. Sollte ein solches widersinniges Resultat --
vom nationalökonomischen Gesichtspunkt ganz zu schweigen --
dem Prinzip der Gerechtigkeit angemessen sein? Sollte die Ge-
genwart das Recht haben, der Zukunft Fesseln anzulegen und
sie unter eine cura prodigi zu stellen? Man möge eine solche
Institution aus politischen Gründen als Privilegium eines

Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Die Verſchiedenheit, die in dieſer Beziehung zwiſchen dem rö-
miſchen und dem modernen Recht beſteht, iſt namentlich für das
Erbrecht intereſſant. Die Gegenſätze zwiſchen Freiheit und Ge-
bundenheit haben ſich hier in eigenthümlicher Weiſe vertheilt.
Nach römiſchem Recht beſchränkt ſich die teſtamentariſche Dis-
poſitionsbefugniß lediglich auf das relative Verhältniß des
Eigenthümers zum Eigenthum; ſein Recht kann er vermachen,
wem er Luſt hat, in dieſer Beziehung iſt er völlig unbeſchränkt.
Dagegen den abſoluten Gehalt des Eigenthums kann er ab-
geſehn von der Anordnung von Servituten nicht verkürzen, der
Erbe bekömmt das Eigenthum in der ganzen Freiheit, die der
Eigenthumsbegriff mit ſich bringt, kann alſo unter Lebenden
wie im Teſtament ganz nach eignem Belieben disponiren. Bei
den modernen Völkern gerade umgekehrt; dort Beſchränkungen
der Dispoſitionsbefugniß, hier eine Erweiterung derſelben bis
zu dem Grade, daß der Wille des Teſtators das Eigenthum für
alle Zeiten, ſo zu ſagen, lahm legen kann (Familienfideikom-
miſſe u. ſ. w.). Ich will die Trifftigkeit des Motivs dieſer Ver-
ſchiedenheit nicht verkennen, nämlich die Rückſicht auf die Fa-
milie, und am wenigſten hinſichtlich des erſten Punktes. Was
aber den zweiten betrifft, ſo muß man, um ein richtiges Urtheil
über denſelben zu gewinnen, ſich nur vergegenwärtigen, wohin
es führen würde, wenn nicht bloß ein einzelner Stand, ſondern
alle Klaſſen des Volks in größerem Maßſtabe von jener Befug-
niß Gebrauch machen würden. Das ganze Eigenthum im Staat
könnte auf dieſe Weiſe einer rechtlichen Erſtarrung anheim fal-
len, die Freiheit des Verkehrs für ewige Zeiten gelähmt, der
Fortſchritt namenlos erſchwert, ja vielfach völlig unmöglich ge-
macht werden. Sollte ein ſolches widerſinniges Reſultat —
vom nationalökonomiſchen Geſichtspunkt ganz zu ſchweigen —
dem Prinzip der Gerechtigkeit angemeſſen ſein? Sollte die Ge-
genwart das Recht haben, der Zukunft Feſſeln anzulegen und
ſie unter eine cura prodigi zu ſtellen? Man möge eine ſolche
Inſtitution aus politiſchen Gründen als Privilegium eines

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p><pb facs="#f0252" n="238"/><fw place="top" type="header">Zweit. Buch. Er&#x017F;t. Ab&#x017F;chn. <hi rendition="#aq">II.</hi> Die Grundtriebe. <hi rendition="#aq">III.</hi> Der Freiheitstrieb.</fw><lb/>
Die Ver&#x017F;chiedenheit, die in die&#x017F;er Beziehung zwi&#x017F;chen dem rö-<lb/>
mi&#x017F;chen und dem modernen Recht be&#x017F;teht, i&#x017F;t namentlich für das<lb/>
Erbrecht intere&#x017F;&#x017F;ant. Die Gegen&#x017F;ätze zwi&#x017F;chen Freiheit und Ge-<lb/>
bundenheit haben &#x017F;ich hier in eigenthümlicher Wei&#x017F;e vertheilt.<lb/>
Nach römi&#x017F;chem Recht be&#x017F;chränkt &#x017F;ich die te&#x017F;tamentari&#x017F;che Dis-<lb/>
po&#x017F;itionsbefugniß lediglich auf das <hi rendition="#g">relative</hi> Verhältniß des<lb/>
Eigenthümers zum Eigenthum; <hi rendition="#g">&#x017F;ein</hi> Recht kann er vermachen,<lb/>
wem er Lu&#x017F;t hat, in die&#x017F;er Beziehung i&#x017F;t er völlig unbe&#x017F;chränkt.<lb/>
Dagegen den <hi rendition="#g">ab&#x017F;oluten</hi> Gehalt des Eigenthums kann er ab-<lb/>
ge&#x017F;ehn von der Anordnung von Servituten nicht verkürzen, der<lb/>
Erbe bekömmt das Eigenthum in der ganzen Freiheit, die der<lb/>
Eigenthumsbegriff mit &#x017F;ich bringt, kann al&#x017F;o unter Lebenden<lb/>
wie im Te&#x017F;tament ganz nach eignem Belieben disponiren. Bei<lb/>
den modernen Völkern gerade umgekehrt; dort Be&#x017F;chränkungen<lb/>
der Dispo&#x017F;itionsbefugniß, hier eine Erweiterung der&#x017F;elben bis<lb/>
zu dem Grade, daß der Wille des Te&#x017F;tators das Eigenthum für<lb/>
alle Zeiten, &#x017F;o zu &#x017F;agen, lahm legen kann (Familienfideikom-<lb/>
mi&#x017F;&#x017F;e u. &#x017F;. w.). Ich will die Trifftigkeit des Motivs die&#x017F;er Ver-<lb/>
&#x017F;chiedenheit nicht verkennen, nämlich die Rück&#x017F;icht auf die Fa-<lb/>
milie, und am wenig&#x017F;ten hin&#x017F;ichtlich des er&#x017F;ten Punktes. Was<lb/>
aber den zweiten betrifft, &#x017F;o muß man, um ein richtiges Urtheil<lb/>
über den&#x017F;elben zu gewinnen, &#x017F;ich nur vergegenwärtigen, wohin<lb/>
es führen würde, wenn nicht bloß ein einzelner Stand, &#x017F;ondern<lb/>
alle Kla&#x017F;&#x017F;en des Volks in größerem Maß&#x017F;tabe von jener Befug-<lb/>
niß Gebrauch machen würden. Das ganze Eigenthum im Staat<lb/>
könnte auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e einer rechtlichen Er&#x017F;tarrung anheim fal-<lb/>
len, die Freiheit des Verkehrs für ewige Zeiten gelähmt, der<lb/>
Fort&#x017F;chritt namenlos er&#x017F;chwert, ja vielfach völlig unmöglich ge-<lb/>
macht werden. Sollte ein &#x017F;olches wider&#x017F;inniges Re&#x017F;ultat &#x2014;<lb/>
vom nationalökonomi&#x017F;chen Ge&#x017F;ichtspunkt ganz zu &#x017F;chweigen &#x2014;<lb/>
dem Prinzip der Gerechtigkeit angeme&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ein? Sollte die Ge-<lb/>
genwart das Recht haben, der Zukunft Fe&#x017F;&#x017F;eln anzulegen und<lb/>
&#x017F;ie unter eine <hi rendition="#aq">cura prodigi</hi> zu &#x017F;tellen? Man möge eine &#x017F;olche<lb/>
In&#x017F;titution aus <hi rendition="#g">politi&#x017F;chen</hi> Gründen als Privilegium eines<lb/></p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[238/0252] Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. Die Verſchiedenheit, die in dieſer Beziehung zwiſchen dem rö- miſchen und dem modernen Recht beſteht, iſt namentlich für das Erbrecht intereſſant. Die Gegenſätze zwiſchen Freiheit und Ge- bundenheit haben ſich hier in eigenthümlicher Weiſe vertheilt. Nach römiſchem Recht beſchränkt ſich die teſtamentariſche Dis- poſitionsbefugniß lediglich auf das relative Verhältniß des Eigenthümers zum Eigenthum; ſein Recht kann er vermachen, wem er Luſt hat, in dieſer Beziehung iſt er völlig unbeſchränkt. Dagegen den abſoluten Gehalt des Eigenthums kann er ab- geſehn von der Anordnung von Servituten nicht verkürzen, der Erbe bekömmt das Eigenthum in der ganzen Freiheit, die der Eigenthumsbegriff mit ſich bringt, kann alſo unter Lebenden wie im Teſtament ganz nach eignem Belieben disponiren. Bei den modernen Völkern gerade umgekehrt; dort Beſchränkungen der Dispoſitionsbefugniß, hier eine Erweiterung derſelben bis zu dem Grade, daß der Wille des Teſtators das Eigenthum für alle Zeiten, ſo zu ſagen, lahm legen kann (Familienfideikom- miſſe u. ſ. w.). Ich will die Trifftigkeit des Motivs dieſer Ver- ſchiedenheit nicht verkennen, nämlich die Rückſicht auf die Fa- milie, und am wenigſten hinſichtlich des erſten Punktes. Was aber den zweiten betrifft, ſo muß man, um ein richtiges Urtheil über denſelben zu gewinnen, ſich nur vergegenwärtigen, wohin es führen würde, wenn nicht bloß ein einzelner Stand, ſondern alle Klaſſen des Volks in größerem Maßſtabe von jener Befug- niß Gebrauch machen würden. Das ganze Eigenthum im Staat könnte auf dieſe Weiſe einer rechtlichen Erſtarrung anheim fal- len, die Freiheit des Verkehrs für ewige Zeiten gelähmt, der Fortſchritt namenlos erſchwert, ja vielfach völlig unmöglich ge- macht werden. Sollte ein ſolches widerſinniges Reſultat — vom nationalökonomiſchen Geſichtspunkt ganz zu ſchweigen — dem Prinzip der Gerechtigkeit angemeſſen ſein? Sollte die Ge- genwart das Recht haben, der Zukunft Feſſeln anzulegen und ſie unter eine cura prodigi zu ſtellen? Man möge eine ſolche Inſtitution aus politiſchen Gründen als Privilegium eines

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/252
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/252>, abgerufen am 28.03.2024.