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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweit. Buch. Erst. Abschn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
stens nicht das Recht oder den Beruf habe, im Interesse der
privaten Wohlfahrt beschränkend in dieselbe einzugreifen? Oder
aber: unterließ er letzteres, weil er positiv diese Freiheit wollte,
weil sie ihm unentbehrlich erschien? In ersterem Fall würde
sich der Indifferentismus des Staats gegen das individuelle
Wohl als der Umstand bezeichnen lassen, dem unser System
sein eigentliches Gedeihen zu verdanken gehabt hätte, und es
bedarf nicht der Bemerkung, daß dasselbe unter dieser Voraus-
setzung eine sehr rohe Auffassung vom Beruf des Staats bekun-
den, der culturhistorische Höhenpunkt desselben mithin ein sehr
niedriger sein würde. Ich halte diese Auffassung für entschieden
verkehrt und hoffe sie im folgenden vollständig widerlegen zu
können. Sie ist zwar meines Wissens noch von Niemanden ge-
radezu als Thesis aufgestellt und vertheidigt -- man würde sich
dann wohl von ihrer Unhaltbarkeit überzeugt haben -- aber
Anklänge an dieselbe sind mir doch nicht selten begegnet, und
ganz abgesehen davon ist die Frage selbst für unsere ganze Unter-
suchung zu wichtig, als daß wir ihr aus dem Wege gehen
dürften.

Schon unsere bisherige Darstellung setzt uns in Stand, uns
von der Irrigkeit jener Auffassungsweise zu überzeugen. Der
Gesichtspunkt nämlich, den wir im vorigen Paragraphen gefun-
den haben, dokumentirt eine positive Pflege der Freiheit von
Seiten des Staats, lehrt uns, daß dieselbe nicht als etwas
lediglich dem subjektiven Belieben Anheimfallendes angesehen,
sondern in ihrer Gegensätzlichkeit zur subjektiven Laune und Will-
kühr richtig erkannt und geschätzt ward, mit andern Worten, daß
sie einen objektiven Gedanken des Rechts bildete.

Es soll jetzt noch auf anderem Wege die Irrigkeit jener Auf-
fassung nachgewiesen werden, dadurch nämlich, daß wir die
Frage aufwerfen und beantworten, ob denn der römische Staat
das Subjekt ganz seinem Schicksal überlassen, sich um das Wohl
und Wehe desselben, um die Privatinteressen und das Leben
und Treiben innerhalb der privaten Rechtswelt gar nicht ge-

Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
ſtens nicht das Recht oder den Beruf habe, im Intereſſe der
privaten Wohlfahrt beſchränkend in dieſelbe einzugreifen? Oder
aber: unterließ er letzteres, weil er poſitiv dieſe Freiheit wollte,
weil ſie ihm unentbehrlich erſchien? In erſterem Fall würde
ſich der Indifferentismus des Staats gegen das individuelle
Wohl als der Umſtand bezeichnen laſſen, dem unſer Syſtem
ſein eigentliches Gedeihen zu verdanken gehabt hätte, und es
bedarf nicht der Bemerkung, daß daſſelbe unter dieſer Voraus-
ſetzung eine ſehr rohe Auffaſſung vom Beruf des Staats bekun-
den, der culturhiſtoriſche Höhenpunkt deſſelben mithin ein ſehr
niedriger ſein würde. Ich halte dieſe Auffaſſung für entſchieden
verkehrt und hoffe ſie im folgenden vollſtändig widerlegen zu
können. Sie iſt zwar meines Wiſſens noch von Niemanden ge-
radezu als Theſis aufgeſtellt und vertheidigt — man würde ſich
dann wohl von ihrer Unhaltbarkeit überzeugt haben — aber
Anklänge an dieſelbe ſind mir doch nicht ſelten begegnet, und
ganz abgeſehen davon iſt die Frage ſelbſt für unſere ganze Unter-
ſuchung zu wichtig, als daß wir ihr aus dem Wege gehen
dürften.

Schon unſere bisherige Darſtellung ſetzt uns in Stand, uns
von der Irrigkeit jener Auffaſſungsweiſe zu überzeugen. Der
Geſichtspunkt nämlich, den wir im vorigen Paragraphen gefun-
den haben, dokumentirt eine poſitive Pflege der Freiheit von
Seiten des Staats, lehrt uns, daß dieſelbe nicht als etwas
lediglich dem ſubjektiven Belieben Anheimfallendes angeſehen,
ſondern in ihrer Gegenſätzlichkeit zur ſubjektiven Laune und Will-
kühr richtig erkannt und geſchätzt ward, mit andern Worten, daß
ſie einen objektiven Gedanken des Rechts bildete.

Es ſoll jetzt noch auf anderem Wege die Irrigkeit jener Auf-
faſſung nachgewieſen werden, dadurch nämlich, daß wir die
Frage aufwerfen und beantworten, ob denn der römiſche Staat
das Subjekt ganz ſeinem Schickſal überlaſſen, ſich um das Wohl
und Wehe deſſelben, um die Privatintereſſen und das Leben
und Treiben innerhalb der privaten Rechtswelt gar nicht ge-

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[240/0254] Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. ſtens nicht das Recht oder den Beruf habe, im Intereſſe der privaten Wohlfahrt beſchränkend in dieſelbe einzugreifen? Oder aber: unterließ er letzteres, weil er poſitiv dieſe Freiheit wollte, weil ſie ihm unentbehrlich erſchien? In erſterem Fall würde ſich der Indifferentismus des Staats gegen das individuelle Wohl als der Umſtand bezeichnen laſſen, dem unſer Syſtem ſein eigentliches Gedeihen zu verdanken gehabt hätte, und es bedarf nicht der Bemerkung, daß daſſelbe unter dieſer Voraus- ſetzung eine ſehr rohe Auffaſſung vom Beruf des Staats bekun- den, der culturhiſtoriſche Höhenpunkt deſſelben mithin ein ſehr niedriger ſein würde. Ich halte dieſe Auffaſſung für entſchieden verkehrt und hoffe ſie im folgenden vollſtändig widerlegen zu können. Sie iſt zwar meines Wiſſens noch von Niemanden ge- radezu als Theſis aufgeſtellt und vertheidigt — man würde ſich dann wohl von ihrer Unhaltbarkeit überzeugt haben — aber Anklänge an dieſelbe ſind mir doch nicht ſelten begegnet, und ganz abgeſehen davon iſt die Frage ſelbſt für unſere ganze Unter- ſuchung zu wichtig, als daß wir ihr aus dem Wege gehen dürften. Schon unſere bisherige Darſtellung ſetzt uns in Stand, uns von der Irrigkeit jener Auffaſſungsweiſe zu überzeugen. Der Geſichtspunkt nämlich, den wir im vorigen Paragraphen gefun- den haben, dokumentirt eine poſitive Pflege der Freiheit von Seiten des Staats, lehrt uns, daß dieſelbe nicht als etwas lediglich dem ſubjektiven Belieben Anheimfallendes angeſehen, ſondern in ihrer Gegenſätzlichkeit zur ſubjektiven Laune und Will- kühr richtig erkannt und geſchätzt ward, mit andern Worten, daß ſie einen objektiven Gedanken des Rechts bildete. Es ſoll jetzt noch auf anderem Wege die Irrigkeit jener Auf- faſſung nachgewieſen werden, dadurch nämlich, daß wir die Frage aufwerfen und beantworten, ob denn der römiſche Staat das Subjekt ganz ſeinem Schickſal überlaſſen, ſich um das Wohl und Wehe deſſelben, um die Privatintereſſen und das Leben und Treiben innerhalb der privaten Rechtswelt gar nicht ge-

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/254>, abgerufen am 19.04.2024.