Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Der Selbständigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26.
des Vorsprunges, den die wissenschaftliche Cultur des Privat-
rechts vor der des Kriminalrechts erlangt hat.32) Als letzteres
in den Gesetzen über die quaestiones perpetuae sich abzulagern
begann, hatte ersteres bereits seit Jahrhunderten die Vortheile
des Zustandes der Festigkeit genossen, wozu noch kam, daß die-
ser Ablagerungsprozeß dort in die Zeiten der Auflösung der Re-
publik fiel, und daß auch die folgenden Jahrhunderte einer
ruhigen Entwicklung des Vorhandenen nichts weniger als gün-
stig waren, während das Privatrecht es in dieser Beziehung sehr
glücklich traf.

2. Innerliches Zu-Sich-Kommen des Rechts.

Ausscheidung fremdartiger Elemente -- abgesonderte Befriedi-
gung derselben, des religiösen im Fas, des moralischen und poli-
tisch-ökonomischen in der Censur -- die Censur ein Ableiter für
das Recht. -- Scharfer Gegensatz zwischen Recht und Moral.

XXVI. Wir haben im bisherigen bloß die Bedeutung der
Form des Rechts ins Auge gefaßt; aber mit der Form allein
ist es nicht gethan. Was nützt der Uebergang von der Sitte
zum Gesetz, wenn nicht zugleich das Recht sich innerlich zu sich
selbst erhebt, sondern wenn, wie dies z. B. in den orientalischen
Gesetz- und Religionsbüchern der Fall ist, der gesammte sittliche
Stoff, der sich im Volk entwickelt hat, ungesichtet und unge-
trennt in das Gesetzbuch hinübergeleitet wird? Jener primitive
Zustand, von dem wir im vorigen Paragraphen gesprochen, soll
in der Weise ein Ende nehmen, daß die verschiedenen Elemente
der sittlichen Substanz: Religion, Recht, Moral u. s. w. sich
innerlich scheiden; wo dies nicht der Fall ist, dennoch aber jener

32) In Deutschland haben entgegengesetzte Ursachen entgegengesetzte
Wirkungen zur Folge gehabt, wenigstens finde ich den Grund, warum das
Kriminalrecht in seiner wissenschaftlichen Ausbildung das deutsche Privatrecht
überflügelt hat, vorzugsweise in der gemeinrechtlichen Fixirung desselben durch
die Carolina.

I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26.
des Vorſprunges, den die wiſſenſchaftliche Cultur des Privat-
rechts vor der des Kriminalrechts erlangt hat.32) Als letzteres
in den Geſetzen über die quaestiones perpetuae ſich abzulagern
begann, hatte erſteres bereits ſeit Jahrhunderten die Vortheile
des Zuſtandes der Feſtigkeit genoſſen, wozu noch kam, daß die-
ſer Ablagerungsprozeß dort in die Zeiten der Auflöſung der Re-
publik fiel, und daß auch die folgenden Jahrhunderte einer
ruhigen Entwicklung des Vorhandenen nichts weniger als gün-
ſtig waren, während das Privatrecht es in dieſer Beziehung ſehr
glücklich traf.

2. Innerliches Zu-Sich-Kommen des Rechts.

Ausſcheidung fremdartiger Elemente — abgeſonderte Befriedi-
gung derſelben, des religiöſen im Fas, des moraliſchen und poli-
tiſch-ökonomiſchen in der Cenſur — die Cenſur ein Ableiter für
das Recht. — Scharfer Gegenſatz zwiſchen Recht und Moral.

XXVI. Wir haben im bisherigen bloß die Bedeutung der
Form des Rechts ins Auge gefaßt; aber mit der Form allein
iſt es nicht gethan. Was nützt der Uebergang von der Sitte
zum Geſetz, wenn nicht zugleich das Recht ſich innerlich zu ſich
ſelbſt erhebt, ſondern wenn, wie dies z. B. in den orientaliſchen
Geſetz- und Religionsbüchern der Fall iſt, der geſammte ſittliche
Stoff, der ſich im Volk entwickelt hat, ungeſichtet und unge-
trennt in das Geſetzbuch hinübergeleitet wird? Jener primitive
Zuſtand, von dem wir im vorigen Paragraphen geſprochen, ſoll
in der Weiſe ein Ende nehmen, daß die verſchiedenen Elemente
der ſittlichen Subſtanz: Religion, Recht, Moral u. ſ. w. ſich
innerlich ſcheiden; wo dies nicht der Fall iſt, dennoch aber jener

32) In Deutſchland haben entgegengeſetzte Urſachen entgegengeſetzte
Wirkungen zur Folge gehabt, wenigſtens finde ich den Grund, warum das
Kriminalrecht in ſeiner wiſſenſchaftlichen Ausbildung das deutſche Privatrecht
überflügelt hat, vorzugsweiſe in der gemeinrechtlichen Fixirung deſſelben durch
die Carolina.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0061" n="47"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Der Selb&#x017F;tändigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26.</fw><lb/>
des Vor&#x017F;prunges, den die wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliche Cultur des Privat-<lb/>
rechts vor der des Kriminalrechts erlangt hat.<note place="foot" n="32)">In Deut&#x017F;chland haben entgegenge&#x017F;etzte Ur&#x017F;achen entgegenge&#x017F;etzte<lb/>
Wirkungen zur Folge gehabt, wenig&#x017F;tens finde ich den Grund, warum das<lb/>
Kriminalrecht in &#x017F;einer wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Ausbildung das deut&#x017F;che Privatrecht<lb/>
überflügelt hat, vorzugswei&#x017F;e in der gemeinrechtlichen Fixirung de&#x017F;&#x017F;elben durch<lb/>
die <hi rendition="#aq">Carolina</hi>.</note> Als letzteres<lb/>
in den Ge&#x017F;etzen über die <hi rendition="#aq">quaestiones perpetuae</hi> &#x017F;ich abzulagern<lb/>
begann, hatte er&#x017F;teres bereits &#x017F;eit Jahrhunderten die Vortheile<lb/>
des Zu&#x017F;tandes der Fe&#x017F;tigkeit geno&#x017F;&#x017F;en, wozu noch kam, daß die-<lb/>
&#x017F;er Ablagerungsprozeß dort in die Zeiten der Auflö&#x017F;ung der Re-<lb/>
publik fiel, und daß auch die folgenden Jahrhunderte einer<lb/>
ruhigen Entwicklung des Vorhandenen nichts weniger als gün-<lb/>
&#x017F;tig waren, während das Privatrecht es in die&#x017F;er Beziehung &#x017F;ehr<lb/>
glücklich traf.</p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>2. <hi rendition="#g">Innerliches Zu-Sich-Kommen des Rechts</hi>.</head><lb/>
                <argument>
                  <p> <hi rendition="#b">Aus&#x017F;cheidung fremdartiger Elemente &#x2014; abge&#x017F;onderte Befriedi-<lb/>
gung der&#x017F;elben, des religiö&#x017F;en im <hi rendition="#aq">Fas,</hi> des morali&#x017F;chen und poli-<lb/>
ti&#x017F;ch-ökonomi&#x017F;chen in der Cen&#x017F;ur &#x2014; die Cen&#x017F;ur ein Ableiter für<lb/>
das Recht. &#x2014; Scharfer Gegen&#x017F;atz zwi&#x017F;chen Recht und Moral.</hi> </p>
                </argument><lb/>
                <p><hi rendition="#aq">XXVI.</hi> Wir haben im bisherigen bloß die Bedeutung der<lb/>
Form des Rechts ins Auge gefaßt; aber mit der Form allein<lb/>
i&#x017F;t es nicht gethan. Was nützt der Uebergang von der Sitte<lb/>
zum Ge&#x017F;etz, wenn nicht zugleich das Recht &#x017F;ich innerlich zu &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t erhebt, &#x017F;ondern wenn, wie dies z. B. in den orientali&#x017F;chen<lb/>
Ge&#x017F;etz- und Religionsbüchern der Fall i&#x017F;t, der ge&#x017F;ammte &#x017F;ittliche<lb/>
Stoff, der &#x017F;ich im Volk entwickelt hat, unge&#x017F;ichtet und unge-<lb/>
trennt in das Ge&#x017F;etzbuch hinübergeleitet wird? Jener primitive<lb/>
Zu&#x017F;tand, von dem wir im vorigen Paragraphen ge&#x017F;prochen, &#x017F;oll<lb/>
in der Wei&#x017F;e ein Ende nehmen, daß die ver&#x017F;chiedenen Elemente<lb/>
der &#x017F;ittlichen Sub&#x017F;tanz: Religion, Recht, Moral u. &#x017F;. w. &#x017F;ich<lb/>
innerlich &#x017F;cheiden; wo dies nicht der Fall i&#x017F;t, dennoch aber jener<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[47/0061] I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26. des Vorſprunges, den die wiſſenſchaftliche Cultur des Privat- rechts vor der des Kriminalrechts erlangt hat. 32) Als letzteres in den Geſetzen über die quaestiones perpetuae ſich abzulagern begann, hatte erſteres bereits ſeit Jahrhunderten die Vortheile des Zuſtandes der Feſtigkeit genoſſen, wozu noch kam, daß die- ſer Ablagerungsprozeß dort in die Zeiten der Auflöſung der Re- publik fiel, und daß auch die folgenden Jahrhunderte einer ruhigen Entwicklung des Vorhandenen nichts weniger als gün- ſtig waren, während das Privatrecht es in dieſer Beziehung ſehr glücklich traf. 2. Innerliches Zu-Sich-Kommen des Rechts. Ausſcheidung fremdartiger Elemente — abgeſonderte Befriedi- gung derſelben, des religiöſen im Fas, des moraliſchen und poli- tiſch-ökonomiſchen in der Cenſur — die Cenſur ein Ableiter für das Recht. — Scharfer Gegenſatz zwiſchen Recht und Moral. XXVI. Wir haben im bisherigen bloß die Bedeutung der Form des Rechts ins Auge gefaßt; aber mit der Form allein iſt es nicht gethan. Was nützt der Uebergang von der Sitte zum Geſetz, wenn nicht zugleich das Recht ſich innerlich zu ſich ſelbſt erhebt, ſondern wenn, wie dies z. B. in den orientaliſchen Geſetz- und Religionsbüchern der Fall iſt, der geſammte ſittliche Stoff, der ſich im Volk entwickelt hat, ungeſichtet und unge- trennt in das Geſetzbuch hinübergeleitet wird? Jener primitive Zuſtand, von dem wir im vorigen Paragraphen geſprochen, ſoll in der Weiſe ein Ende nehmen, daß die verſchiedenen Elemente der ſittlichen Subſtanz: Religion, Recht, Moral u. ſ. w. ſich innerlich ſcheiden; wo dies nicht der Fall iſt, dennoch aber jener 32) In Deutſchland haben entgegengeſetzte Urſachen entgegengeſetzte Wirkungen zur Folge gehabt, wenigſtens finde ich den Grund, warum das Kriminalrecht in ſeiner wiſſenſchaftlichen Ausbildung das deutſche Privatrecht überflügelt hat, vorzugsweiſe in der gemeinrechtlichen Fixirung deſſelben durch die Carolina.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/61
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/61>, abgerufen am 19.04.2024.