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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweites Buch. Erster Abschnitt. II. Die Grundtriebe.
Fortgang von der mehr oder minder freien Sitte zu dem Gesetz
Statt findet, stiftet derselbe mehr Schaden als Nutzen. Denn
es erstarrt hier auch der Theil der sittlichen Welt, der flüssig
bleiben sollte, auf dem der sittliche Geist sich frei muß bewegen
können;33) es ist die Versteinerung der sittlichen Welt auf ihrer
niedersten Entwicklungsstufe.

Wenn wir nun die Anforderung stellen, es solle das Recht sich
frei machen von jener Gemeinschaft und sich zu sich selbst erheben,
so setzen wir damit voraus, daß das Recht sein Maß und Ziel
in sich selbst trage, daß es also nicht eine bloße Form sei,
deren Eigenthümlichkeit in dem äußern Zwange bestehe, und
die jeden beliebigen Inhalt in sich aufnehmen dürfe. Allerdings
ist nicht zu läugnen, daß das Recht nach Verschiedenheit der
Völker und Zeiten bald diesen, bald jenen Inhalt hat, und im-
mer ist der bestimmte Inhalt in dem bestimmten Staat Rechtens,
allein vom Standpunkt unserer Ansicht aus werden wir uns bei
dieser Thatsache nicht beruhigen, sondern den Inhalt selbst einer
Prüfung unterwerfen, ob er z. B. eigentlicher Rechtsstoff, wenn
ich so sagen darf, oder nur gesetzlich normirte Moral, Zweck-
mäßigkeit u. s. w. ist. Wir werden darnach also die verschiede-
nen Rechte und Gesetzgebungen in Hinsicht auf ihren spezifischen
Rechts-Gehalt mit einander vergleichen dürfen.

Unsere Darstellung berührt hier einen bedenklichen Punkt;
es ist das Kap Horn der Rechtsphilosophie. Ich glaube mir
eher den Dank, als den Vorwurf des Lesers zu verdienen, wenn
ich mich diesem Punkt nicht zu nahe wage, sondern ihn vielmehr,
so weit unser Zweck es verstattet, in möglichst weiter Entfer-
nung zu umschiffen versuche.34) Dies ist in der Weise möglich,

33) Der Orient gewährt schlagende Belege. S. namentlich die meister-
hafte Schilderung des Orients in Hegels Philosophie der Geschichte.
34) Ich bemerke, daß ich mich, was den Unterschied von Recht und Mo-
ral anbetrifft, zu der Ansicht von Stahl Rechtsphilos. 2. Aufl. B. II. Abth. 1
S. 161 bekenne.

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
Fortgang von der mehr oder minder freien Sitte zu dem Geſetz
Statt findet, ſtiftet derſelbe mehr Schaden als Nutzen. Denn
es erſtarrt hier auch der Theil der ſittlichen Welt, der flüſſig
bleiben ſollte, auf dem der ſittliche Geiſt ſich frei muß bewegen
können;33) es iſt die Verſteinerung der ſittlichen Welt auf ihrer
niederſten Entwicklungsſtufe.

Wenn wir nun die Anforderung ſtellen, es ſolle das Recht ſich
frei machen von jener Gemeinſchaft und ſich zu ſich ſelbſt erheben,
ſo ſetzen wir damit voraus, daß das Recht ſein Maß und Ziel
in ſich ſelbſt trage, daß es alſo nicht eine bloße Form ſei,
deren Eigenthümlichkeit in dem äußern Zwange beſtehe, und
die jeden beliebigen Inhalt in ſich aufnehmen dürfe. Allerdings
iſt nicht zu läugnen, daß das Recht nach Verſchiedenheit der
Völker und Zeiten bald dieſen, bald jenen Inhalt hat, und im-
mer iſt der beſtimmte Inhalt in dem beſtimmten Staat Rechtens,
allein vom Standpunkt unſerer Anſicht aus werden wir uns bei
dieſer Thatſache nicht beruhigen, ſondern den Inhalt ſelbſt einer
Prüfung unterwerfen, ob er z. B. eigentlicher Rechtsſtoff, wenn
ich ſo ſagen darf, oder nur geſetzlich normirte Moral, Zweck-
mäßigkeit u. ſ. w. iſt. Wir werden darnach alſo die verſchiede-
nen Rechte und Geſetzgebungen in Hinſicht auf ihren ſpezifiſchen
Rechts-Gehalt mit einander vergleichen dürfen.

Unſere Darſtellung berührt hier einen bedenklichen Punkt;
es iſt das Kap Horn der Rechtsphiloſophie. Ich glaube mir
eher den Dank, als den Vorwurf des Leſers zu verdienen, wenn
ich mich dieſem Punkt nicht zu nahe wage, ſondern ihn vielmehr,
ſo weit unſer Zweck es verſtattet, in möglichſt weiter Entfer-
nung zu umſchiffen verſuche.34) Dies iſt in der Weiſe möglich,

33) Der Orient gewährt ſchlagende Belege. S. namentlich die meiſter-
hafte Schilderung des Orients in Hegels Philoſophie der Geſchichte.
34) Ich bemerke, daß ich mich, was den Unterſchied von Recht und Mo-
ral anbetrifft, zu der Anſicht von Stahl Rechtsphiloſ. 2. Aufl. B. II. Abth. 1
S. 161 bekenne.
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[48/0062] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe. Fortgang von der mehr oder minder freien Sitte zu dem Geſetz Statt findet, ſtiftet derſelbe mehr Schaden als Nutzen. Denn es erſtarrt hier auch der Theil der ſittlichen Welt, der flüſſig bleiben ſollte, auf dem der ſittliche Geiſt ſich frei muß bewegen können; 33) es iſt die Verſteinerung der ſittlichen Welt auf ihrer niederſten Entwicklungsſtufe. Wenn wir nun die Anforderung ſtellen, es ſolle das Recht ſich frei machen von jener Gemeinſchaft und ſich zu ſich ſelbſt erheben, ſo ſetzen wir damit voraus, daß das Recht ſein Maß und Ziel in ſich ſelbſt trage, daß es alſo nicht eine bloße Form ſei, deren Eigenthümlichkeit in dem äußern Zwange beſtehe, und die jeden beliebigen Inhalt in ſich aufnehmen dürfe. Allerdings iſt nicht zu läugnen, daß das Recht nach Verſchiedenheit der Völker und Zeiten bald dieſen, bald jenen Inhalt hat, und im- mer iſt der beſtimmte Inhalt in dem beſtimmten Staat Rechtens, allein vom Standpunkt unſerer Anſicht aus werden wir uns bei dieſer Thatſache nicht beruhigen, ſondern den Inhalt ſelbſt einer Prüfung unterwerfen, ob er z. B. eigentlicher Rechtsſtoff, wenn ich ſo ſagen darf, oder nur geſetzlich normirte Moral, Zweck- mäßigkeit u. ſ. w. iſt. Wir werden darnach alſo die verſchiede- nen Rechte und Geſetzgebungen in Hinſicht auf ihren ſpezifiſchen Rechts-Gehalt mit einander vergleichen dürfen. Unſere Darſtellung berührt hier einen bedenklichen Punkt; es iſt das Kap Horn der Rechtsphiloſophie. Ich glaube mir eher den Dank, als den Vorwurf des Leſers zu verdienen, wenn ich mich dieſem Punkt nicht zu nahe wage, ſondern ihn vielmehr, ſo weit unſer Zweck es verſtattet, in möglichſt weiter Entfer- nung zu umſchiffen verſuche. 34) Dies iſt in der Weiſe möglich, 33) Der Orient gewährt ſchlagende Belege. S. namentlich die meiſter- hafte Schilderung des Orients in Hegels Philoſophie der Geſchichte. 34) Ich bemerke, daß ich mich, was den Unterſchied von Recht und Mo- ral anbetrifft, zu der Anſicht von Stahl Rechtsphiloſ. 2. Aufl. B. II. Abth. 1 S. 161 bekenne.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/62>, abgerufen am 25.04.2024.