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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. A. Im allgem.
tisch zu sein, sich nicht auf praktische Fragen be-
schränken darf
.

So enthält also das System die Emancipation der Juris-
prudenz von dem Zufall des unmittelbaren Bedürfnisses; auf
ihm beruht also die eigentliche wissenschaftliche Freiheit
der Jurisprudenz
. Mit dieser Bemerkung aber treffen wir
zugleich unsern zweiten Hauptsatz, nämlich

2. Das System ist eine unversiegbare Quelle
neuen Stoffs
.

Wenn die Jurisprudenz bloß erschließt, was der Gesetzgeber
mittelbar gesetzt und gegeben hat, so kann man hier nur uneigent-
lich von einem neuen Stoff reden; es ist nicht sowohl eine
Production, als eine Enthüllung. 529) Dagegen gibt es auch
eine juristische Production im strengsten Sinn, die Hervorbrin-
gung eines absolut neuen Stoffes. Wer nur die oberflächlichste
Anschauung von den Arbeiten der römischen Juristen hat, muß
sie kennen; denn jedes Blatt unserer justinianeischen Pandekten
legt Zeugniß von ihr ab. Wie viel Lehren hat die römische Ju-
risprudenz geschaffen, zu denen das positive Recht ihr auch nicht
den geringsten Anhaltspunkt, den leisesten Anstoß gegeben hat!
Welches Gesetz hatte z. B. etwas bestimmt über die Theilbarkeit
oder Untheilbarkeit der Servituten, des Pfandrechts u. s. w.?
Und doch ist diese Lehre von der Theilbarkeit eine der stoffreich-
sten, umfangreichsten, die es gibt. Oder wo stand etwas über
den Eigenthumserwerb durch Specification und Accession? Kurz
diese Lehren sind wahrhafte juristische Productionen, gewonnen
rein auf dem Wege der juristischen Speculation. Der
Stoff z. B., aus dem die Jurisprudenz die Lehre von der Spe-
cification und Accession entwarf, war nichts, als der allgemein
logische Begriff der Identität, angewandt auf die Umge-
staltung einer Sache
.

529) Man kann Gajus Worte von der Specification hier anwenden: non
novam speciem facit, sed eam, quae est, detegit.

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
tiſch zu ſein, ſich nicht auf praktiſche Fragen be-
ſchränken darf
.

So enthält alſo das Syſtem die Emancipation der Juris-
prudenz von dem Zufall des unmittelbaren Bedürfniſſes; auf
ihm beruht alſo die eigentliche wiſſenſchaftliche Freiheit
der Jurisprudenz
. Mit dieſer Bemerkung aber treffen wir
zugleich unſern zweiten Hauptſatz, nämlich

2. Das Syſtem iſt eine unverſiegbare Quelle
neuen Stoffs
.

Wenn die Jurisprudenz bloß erſchließt, was der Geſetzgeber
mittelbar geſetzt und gegeben hat, ſo kann man hier nur uneigent-
lich von einem neuen Stoff reden; es iſt nicht ſowohl eine
Production, als eine Enthüllung. 529) Dagegen gibt es auch
eine juriſtiſche Production im ſtrengſten Sinn, die Hervorbrin-
gung eines abſolut neuen Stoffes. Wer nur die oberflächlichſte
Anſchauung von den Arbeiten der römiſchen Juriſten hat, muß
ſie kennen; denn jedes Blatt unſerer juſtinianeiſchen Pandekten
legt Zeugniß von ihr ab. Wie viel Lehren hat die römiſche Ju-
risprudenz geſchaffen, zu denen das poſitive Recht ihr auch nicht
den geringſten Anhaltspunkt, den leiſeſten Anſtoß gegeben hat!
Welches Geſetz hatte z. B. etwas beſtimmt über die Theilbarkeit
oder Untheilbarkeit der Servituten, des Pfandrechts u. ſ. w.?
Und doch iſt dieſe Lehre von der Theilbarkeit eine der ſtoffreich-
ſten, umfangreichſten, die es gibt. Oder wo ſtand etwas über
den Eigenthumserwerb durch Specification und Acceſſion? Kurz
dieſe Lehren ſind wahrhafte juriſtiſche Productionen, gewonnen
rein auf dem Wege der juriſtiſchen Speculation. Der
Stoff z. B., aus dem die Jurisprudenz die Lehre von der Spe-
cification und Acceſſion entwarf, war nichts, als der allgemein
logiſche Begriff der Identität, angewandt auf die Umge-
ſtaltung einer Sache
.

529) Man kann Gajus Worte von der Specification hier anwenden: non
novam speciem facit, sed eam, quae est, detegit.
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[412/0118] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem. tiſch zu ſein, ſich nicht auf praktiſche Fragen be- ſchränken darf. So enthält alſo das Syſtem die Emancipation der Juris- prudenz von dem Zufall des unmittelbaren Bedürfniſſes; auf ihm beruht alſo die eigentliche wiſſenſchaftliche Freiheit der Jurisprudenz. Mit dieſer Bemerkung aber treffen wir zugleich unſern zweiten Hauptſatz, nämlich 2. Das Syſtem iſt eine unverſiegbare Quelle neuen Stoffs. Wenn die Jurisprudenz bloß erſchließt, was der Geſetzgeber mittelbar geſetzt und gegeben hat, ſo kann man hier nur uneigent- lich von einem neuen Stoff reden; es iſt nicht ſowohl eine Production, als eine Enthüllung. 529) Dagegen gibt es auch eine juriſtiſche Production im ſtrengſten Sinn, die Hervorbrin- gung eines abſolut neuen Stoffes. Wer nur die oberflächlichſte Anſchauung von den Arbeiten der römiſchen Juriſten hat, muß ſie kennen; denn jedes Blatt unſerer juſtinianeiſchen Pandekten legt Zeugniß von ihr ab. Wie viel Lehren hat die römiſche Ju- risprudenz geſchaffen, zu denen das poſitive Recht ihr auch nicht den geringſten Anhaltspunkt, den leiſeſten Anſtoß gegeben hat! Welches Geſetz hatte z. B. etwas beſtimmt über die Theilbarkeit oder Untheilbarkeit der Servituten, des Pfandrechts u. ſ. w.? Und doch iſt dieſe Lehre von der Theilbarkeit eine der ſtoffreich- ſten, umfangreichſten, die es gibt. Oder wo ſtand etwas über den Eigenthumserwerb durch Specification und Acceſſion? Kurz dieſe Lehren ſind wahrhafte juriſtiſche Productionen, gewonnen rein auf dem Wege der juriſtiſchen Speculation. Der Stoff z. B., aus dem die Jurisprudenz die Lehre von der Spe- cification und Acceſſion entwarf, war nichts, als der allgemein logiſche Begriff der Identität, angewandt auf die Umge- ſtaltung einer Sache. 529) Man kann Gajus Worte von der Specification hier anwenden: non novam speciem facit, sed eam, quae est, detegit.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/118>, abgerufen am 23.04.2024.