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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
theuer im eigentlichen Sinn würden dem heutigen Verkehr die
römischen Formeln werden -- am theuersten, wenn er die Kosten
der Zuziehung des Juristen sparen wollte! Der zweite Umstand
besteht in einer Eigenschaft, die wenn auch dem römischen Volk
keineswegs eigenthümlich, sich doch bei ihm in ungleich höhe-
rem Grade vorfand, als mit Ausnahme des englischen bei allen
Völkern der Gegenwart, ich meine jenen nationalen Zug zur
Form, den ich im Folgenden als Formensinn bezeichnet habe,
und der das Volk die Formen nicht als etwas äußerlich Auf-
gedrungenes, Positives und Fremdartiges, sondern als etwas
innerlich Nothwendiges, Natürliches, Homogenes erscheinen
ließ.

Ich wende mich jetzt der oben S. 504 aufgeworfenen zwei-
ten
Frage zu.

II. Die historischen Gründe des Formalismus.

Ich habe mich dort bereits dahin ausgesprochen, daß ich
den Grund des historischen Auftretens und Bestandes des For-
malismus keineswegs bloß in seine im Bisherigen ausgeführte
praktische Brauchbarkeit setze, und ich will im Folgenden den
Versuch machen, die übrigen mitwirkenden Gründe aufzu-
suchen.

Wir müssen zu dem Ende zwei Arten der Formen wohl von
einander unterscheiden. Wenn ein Gesetzgeber eine Form ein-
führt, so geschieht es eines bestimmten Zweckes wegen. Hier
verdankt die Form in der That ihr Dasein sowohl wie ihren
Zuschnitt ausschließlich einem praktischen Motiv; sie tritt in
die Welt mit einer bestimmten Tendenz an der Stirn, und in
Hinblick darauf will ich diese Art der Formen tendentiöse
nennen.

Anders bei denjenigen Formen, die aus dem Leben und dem
Volke selbst hervorgegangen sind, wie namentlich alle der Ur-
zeit des Rechts angehörige. Ich nenne sie naive. Der Um-
stand, daß sie nicht mit Absicht und Bewußtsein eingeführt, daß

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Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
theuer im eigentlichen Sinn würden dem heutigen Verkehr die
römiſchen Formeln werden — am theuerſten, wenn er die Koſten
der Zuziehung des Juriſten ſparen wollte! Der zweite Umſtand
beſteht in einer Eigenſchaft, die wenn auch dem römiſchen Volk
keineswegs eigenthümlich, ſich doch bei ihm in ungleich höhe-
rem Grade vorfand, als mit Ausnahme des engliſchen bei allen
Völkern der Gegenwart, ich meine jenen nationalen Zug zur
Form, den ich im Folgenden als Formenſinn bezeichnet habe,
und der das Volk die Formen nicht als etwas äußerlich Auf-
gedrungenes, Poſitives und Fremdartiges, ſondern als etwas
innerlich Nothwendiges, Natürliches, Homogenes erſcheinen
ließ.

Ich wende mich jetzt der oben S. 504 aufgeworfenen zwei-
ten
Frage zu.

II. Die hiſtoriſchen Gründe des Formalismus.

Ich habe mich dort bereits dahin ausgeſprochen, daß ich
den Grund des hiſtoriſchen Auftretens und Beſtandes des For-
malismus keineswegs bloß in ſeine im Bisherigen ausgeführte
praktiſche Brauchbarkeit ſetze, und ich will im Folgenden den
Verſuch machen, die übrigen mitwirkenden Gründe aufzu-
ſuchen.

Wir müſſen zu dem Ende zwei Arten der Formen wohl von
einander unterſcheiden. Wenn ein Geſetzgeber eine Form ein-
führt, ſo geſchieht es eines beſtimmten Zweckes wegen. Hier
verdankt die Form in der That ihr Daſein ſowohl wie ihren
Zuſchnitt ausſchließlich einem praktiſchen Motiv; ſie tritt in
die Welt mit einer beſtimmten Tendenz an der Stirn, und in
Hinblick darauf will ich dieſe Art der Formen tendentiöſe
nennen.

Anders bei denjenigen Formen, die aus dem Leben und dem
Volke ſelbſt hervorgegangen ſind, wie namentlich alle der Ur-
zeit des Rechts angehörige. Ich nenne ſie naive. Der Um-
ſtand, daß ſie nicht mit Abſicht und Bewußtſein eingeführt, daß

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[531/0237] Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45. theuer im eigentlichen Sinn würden dem heutigen Verkehr die römiſchen Formeln werden — am theuerſten, wenn er die Koſten der Zuziehung des Juriſten ſparen wollte! Der zweite Umſtand beſteht in einer Eigenſchaft, die wenn auch dem römiſchen Volk keineswegs eigenthümlich, ſich doch bei ihm in ungleich höhe- rem Grade vorfand, als mit Ausnahme des engliſchen bei allen Völkern der Gegenwart, ich meine jenen nationalen Zug zur Form, den ich im Folgenden als Formenſinn bezeichnet habe, und der das Volk die Formen nicht als etwas äußerlich Auf- gedrungenes, Poſitives und Fremdartiges, ſondern als etwas innerlich Nothwendiges, Natürliches, Homogenes erſcheinen ließ. Ich wende mich jetzt der oben S. 504 aufgeworfenen zwei- ten Frage zu. II. Die hiſtoriſchen Gründe des Formalismus. Ich habe mich dort bereits dahin ausgeſprochen, daß ich den Grund des hiſtoriſchen Auftretens und Beſtandes des For- malismus keineswegs bloß in ſeine im Bisherigen ausgeführte praktiſche Brauchbarkeit ſetze, und ich will im Folgenden den Verſuch machen, die übrigen mitwirkenden Gründe aufzu- ſuchen. Wir müſſen zu dem Ende zwei Arten der Formen wohl von einander unterſcheiden. Wenn ein Geſetzgeber eine Form ein- führt, ſo geſchieht es eines beſtimmten Zweckes wegen. Hier verdankt die Form in der That ihr Daſein ſowohl wie ihren Zuſchnitt ausſchließlich einem praktiſchen Motiv; ſie tritt in die Welt mit einer beſtimmten Tendenz an der Stirn, und in Hinblick darauf will ich dieſe Art der Formen tendentiöſe nennen. Anders bei denjenigen Formen, die aus dem Leben und dem Volke ſelbſt hervorgegangen ſind, wie namentlich alle der Ur- zeit des Rechts angehörige. Ich nenne ſie naive. Der Um- ſtand, daß ſie nicht mit Abſicht und Bewußtſein eingeführt, daß 34*

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 531. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/237>, abgerufen am 25.04.2024.